Rammstein, eskalierende Weihnachtsfeiern bei Start-ups, ein Kuss bei der Frauen-WM: Das Thema Machtmissbrauch flutet momentan die sozialen Medien. Auch im Arbeitskontext häufen sich sensible Übergriffe gegen Frauen und Männer. Diese sorgen für persönliche, psychische und wirtschaftliche Konsequenzen. Gibt es ein Bürokonzept, das Übergriffen vorbeugt? Ein Gespräch mit der Arbeits- und Organisationspsychologin Prof. Dr. Laura Venz.
von Anne Ziegler
Die Expertin
Prof. Dr. Laura Venz ist Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie beschäftigt sich vor allem mit dem Thema Gesundheit und Wohlbefinden in einer dynamischen Arbeitswelt.
inperspective: Frau Venz, momentan diskutiert die Gesellschaft intensiv über »Macht« und »Machtmissbrauch«. Wie wichtig ist diese Debatte, wenn wir nicht über Konzerte, sondern über Arbeit sprechen. Genauer: Über Arbeit in Büros?
Laura Venz: Sehr wichtig! Aber zunächst müssen wir den Begriff Macht für uns definieren. Was bedeutet klassischer Machtmissbrauch? Und was ist nicht tragfähiges Verhalten in Beziehungen auf Augenhöhe? Wichtig gleich zu Beginn: Es ist nicht automatisch schlimmer, wenn Übergriffe von der Führungsperson ausgehen.
inperspective: Wie definieren Sie Macht?
Laura Venz: Wenn wir vom alltäglichen Sprachgebrauch ausgehen, denken die meisten Menschen an eine Führungsperson, die Entscheidungen trifft. Beispielsweise über Beförderungen, Boni oder Ähnliches. In der Wissenschaft nennen wir das »Positionsmacht«. Es gibt darüber hinaus noch andere Formen von Macht, beispielsweise die Legitimationsmacht. Ein klassisches Beispiel dafür sind gewählte Politikerinnen und Politiker. Aber auch Personen, denen man in einem Team das meiste Wissen zuschreibt.
inperspective: In den vergangenen Jahren hat sich die Wissensarbeit verändert. Begriffe wie New Work wabern durch das Web und weichen verkrustete Strukturen auf. Wie hat sich der Wandel in den Arbeitswelten auf das Konstrukt »Macht« ausgewirkt?
Laura Venz: Es ist ein Trugschluss, dass mit den Hierarchie- auch die Machtstrukturen verschwinden. Ja, wir haben in einer hierarchielosen Struktur keine Positionsmacht mehr. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen keine Macht mehr ausspielen könnten. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass Unternehmen mit dem Abschaffen der Hierarchien auch automatisch das Risiko für Machtmissbrauch bannen.
inperspective: Weil sich soziale, gelernte Machtstrukturen auf den Berufskontext auswirken?
Laura Venz: Wir Menschen benutzen unterbewusste bestimmte Heuristiken. Das sind Denkmuster, mit denen wir uns einfacher durch den Alltag navigieren. Solche Heuristiken sind beispielsweise Annahmen über Menschen, die nicht immer zutreffen. Diese Stereotype beeinflussen unser Verhalten gegenüber Mitmenschen. Ob wir Macht empfinden – oder eben das Gegenteil davon.
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inperspective: Das klingt komplex. Haben Sie ein einfaches Beispiel?
Laura Venz: »Think manager, think male. Think follower, think female.«
inperspective: Und das heißt – abgesehen von der Übersetzung – was?
Laura Venz: Stellen wir uns ein Krankenhaus vor. Auf dem Gang stehen eine Frau und ein Mann. Beide sind etwa gleich alt, tragen ähnliche Kleidung. Nirgends steht die Rolle der Person. Was statistisch gesehen wahrscheinlich passieren wird? Der Mann wird als Arzt angesprochen, die Frau als Krankenschwester. Schon liegt – ohne dass es jemand beabsichtigt – eine Machtstruktur vor. In dieser ist der Mann einer mächtigeren Position zugeordnet als die Frau.
inperspective: Eine der gefährlichsten Formen von Machtmissbrauch sind sexuelle Delikte. 13 Prozent aller Frauen, die im Büro arbeiten, litten bereits unter sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Interessanterweise auch fünf Prozent der Männer. Werden diese anders belästigt als Frauen?
Laura Venz: Das weiß ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Zahlen deshalb unterscheiden, weil Frauen häufiger auch verbal belästigt werden. Wir sprechen von sogenannten Mikro-Aggressionen, denen Frauen häufiger ausgesetzt sind als Männer. Männer nehmen außerdem Handlungen wie beispielsweise eine Hand auf der Schulter möglicherweise weniger wahrscheinlich als sexuell oder übergriffig wahr. Auch hier ist das grundsätzliche Machtgefälle zwischen Männern und Frauen mutmaßlich relevant.
inperspective: Zuletzt gab es Eklats um junge Start-up-Gründer, die Frauen auf Weihnachtsfeiern belästigt haben. Gibt es Organisationsformen, die für Machtmissbrauch besonders empfänglich sind?
Laura Venz: Das bezweifle ich. Aber wir können die Hypothese aufstellen, dass mit den flachen Hierarchien auch persönliche Grenzen fallen. Das Abschätzen, was noch ein freundschaftlicher, lockerer Umgang ist und was nicht, fällt dann vielleicht schwerer.
inperspective: Was kann beim Ermessen des richtigen Verhaltens helfen?
Laura Venz: Mehr Aufklärung und Sensibilisierung. Vor allem darüber, was alles sexuelle Belästigung sein kann, nämlich jedes durch die betroffene Person unerwünschte Verhalten. Und das sind nicht nur körperliche Aspekte, sondern auch verbale. Zum Beispiel der »nur lustig gemeinte Witz«.
inperspective: Das bringt uns zu der großen Komplexität bei diesem Thema. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz birgt einen gewissen Interpretationsspielraum. Manche lachen gerne über anzügliche Witze, andere fühlen sich aus verständlichen Gründen belästigt. Die Hand auf der Schulter beim Blick auf den Computerbildschirm interpretieren manche als kollegial. Für andere ist es eine verletzende Grenzübertretung. Mit welchen Regeln können sich vermeintlich harmlose Vorfälle wie diese vermeiden?
Laura Venz: Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, welches Verhalten als sexuelle Belästigung zählt. Und das unabhängig von der individuellen Wahrnehmung. Es ist gut denkbar, dass bestimmte Verhaltensweisen von der ausführenden Person nicht sexuell intendiert sind. Das »über die Schulter gucken« muss nicht unbedingt eine sexuelle Komponente haben. Es kann jedoch so aufgenommen werden. Deshalb sind eine klare und gute Kommunikation sowie Aufklärung entscheidend.
inperspective: Wie sehr bestimmt das Machtgefüge in einem Raum, wie Menschen Handlungen und Worte wahrnehmen? Abstrahiert: Müssen sich Chefinnen und Chefs anders verhalten als normale Mitarbeitende?
Laura Venz: Schwer zu sagen. Klar ist: Es braucht eine Atmosphäre, in der Mitarbeitende ohne persönliche negative Konsequenzen sagen können, dass die Chefin oder Chef eine Grenze überschritten hat.
inperspective: Was könnte eine präventive Lösung sein, die rasch wirkt?
Laura Venz: Die Gos und No-Gos klar definieren und reflektieren. Das ist für alle Menschen hilfreich. Denn auch wir selbst denken durch so eine Frage darüber nach, was wir eigentlich möchten und was nicht. Wir lernen, dass unsere eigenen Grenzen nicht zwangsläufig denen der anderen entsprechen.
inperspective: Also wäre ein individueller Katalog eine Alternative. Kollegin A umarmen, Kollege B die Hand geben, Kollege C winken.
Laura Venz: Das ist schwierig. Dann muss sich jede Führungskraft immer daran erinnern, was Person x möchte und nicht möchte. Ich sehe es so: Wir befinden uns grundsätzlich in einer professionellen Beziehung – in der braucht es keine Umarmungen. Und wenn hier eine mögliche Grenze auch nur für eine Person in der Abteilung besteht, ist es wahrscheinlich besser, diese Grenze für alle zu setzen.
inperspective: Und was ist nun die Lösung?
Laura Venz: Wenn ein Unternehmen universelle Regeln haben möchte, müssen diese strenger sein. Es kommt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner an. Was ich aber noch mal verdeutlichen möchte: Allein dieser Prozess des miteinander Redens sensibilisiert. Gemeinsame Gespräche und Workshops steigern das Bewusstsein für die Mitmenschen. Das ist für alle Beteiligten ein Gewinn. Die meisten Menschen möchten ja nicht übergriffig sein.
inperspective: Vorher erwähnten Sie, dass es ein Problem mit Mikro-Aggressionen gibt. Vor allem gegenüber Frauen. Was meinten Sie damit?
Laura Venz: Das ganze Thema Macht und Machtmissbrauch umfasst mehr als (körperliche) sexuelle Belästigung. Ein Beispiel sind Mikro-Aggressionen. Das sind anzügliche Witze oder Sprüche wie: »Die ist bestimmt eh nicht lange da, die wird bald schwanger«. Auch das hartnäckige Narrativ, dass Mütter nur halb so viel Leistung im Beruf bringen wie Väter, ist Nonsens. Wenn daraus Ungleichbehandlung entsteht, wenn Frauen beispielsweise weniger prestigeträchtige Projekte übertragen bekommen, nennen wir das ‚subtile Diskriminierung‘. Diese betrifft übrigens nicht nur das Geschlecht. Auch Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung können diskriminiert werden.
inperspective: Wie dramatisch die Folgen für die Opfer sein können, wissen wir durch zahlreiche Studien. Doch wie wirkt sich das auf ein Unternehmen aus?
Laura Venz: Ganz erheblich. Mikro-Aggressionen und subtile Diskriminierung betreffen nicht nur die Opfer, sondern auch diejenigen, die diese mitbekommen. Die Folgen für Unternehmen sind vielfältig. Neben Unzufriedenheit und sinkender Leistung bei Betroffenen zeigen sich negative Effekte auf die psychische und körperliche Gesundheit. Für Unternehmen bedeutet das wirtschaftliche Einbußen. Mehr Fehltage. Sinkende Produktivität. Eine hohe Fluktuation. Firmen, die entsprechendes Verhalten nicht ahnden, drohen Imageschäden. Das schmälert die Attraktivität als Arbeitgeber.
inperspective: »In klar positionierten Unternehmen, die nach innen und außen Diversität kommunizieren, ist die Mitarbeiterbindung höher als in Unternehmen, die sich nicht positionieren.« Stimmt die folgende These?
Laura Venz: Genau das zeigen die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien. Wobei Kommunikation allein nicht reicht. Diversität muss auch tatsächlich gelebt werden. Sonst droht ‚Diversity Washing‘. Ein Sprung zurück zu den Mikro-Aggressionen. Bei Betroffenen (direkt und indirekt) stellt sich die Frage: Möchte ich in diesem Umfeld (noch) arbeiten?
Dazu hat sich der Arbeitsmarkt gewandelt. Wenn Arbeitnehmende in einem Job nicht glücklich sind, dann suchen sie sich heutzutage viel eher einen neuen. Allein deshalb müssen Unternehmen diese vermeintlichen Banalitäten ernst nehmen. Es geht um ihre Zukunft.
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inperspective: Das Büro ist nicht nur als Ökosystem spannend, sondern auch als Umgebung. Gibt es Konzepte wie den Großraum, die sich zum Vorbeugen von sexueller Belästigung besser eignen?
Laura Venz: Leider nicht. Es sind individuelle Entscheidungen, die zu einem bestimmten Verhalten führen. Wer es darauf anlegt, sexuell belästigen zu wollen, findet einen Weg dafür, auch im Großraumbüro.
inperspective: Ein Großraum-Office bietet deutlich weniger Anonymität als die Büro-Wabe. Das muss doch helfen.
Laura Venz: Die Vermutung ist, dass im Großraumbüro alle alles mitbekommen. Aber stimmt das? Ich habe sofort eine Frage im Kopf: Wie viele Beispiele von Überfällen im öffentlichen Raum gibt es, bei denen andere wegschauen? Es ist keine Frage des Raumkonzepts. Es ist eine Frage der Unternehmenskultur. Wenn Machtmissbrauch und Belästigung am Arbeitsplatz thematisiert, wahrgenommen und geahndet werden, steigt die Hemmschwelle. Außerdem riskieren wir beim »Thema Raumkonzept gegen Übergriffe« möglicherweise, dass wir die Verantwortung für die Tat auf die Opfer übertragen. Aus dem »Warum war die Jeans so eng« wird: »Warum hast du denn nicht den Meetingraum mit Glastür gewählt?« Sexuelle Übergriffe dürfen auch im geschlossenen Einzelbüro nicht vorkommen. Die Verantwortung liegt immer bei den Tätern und Täterinnen.
inperspective: Also hat das Design keinen Einfluss auf die Kultur?
Laura Venz: Das habe ich nicht gesagt. Interessant ist das Eisbergmodell von Edgar Schein. Dieses sagt aus, dass viele Aspekte, die die Unternehmenskultur ausmachen, unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben. Zum Beispiel der Umgang mit Mikro-Aggressionen. Und dann haben wir die Spitze des Eisbergs. Das ist das, was wir sehen. Die Bürogestaltung gehört dazu. Architektinnen und Architekten können also die kulturellen Werte an die Wasseroberfläche bringen. Sie über das Raumdesign sichtbar machen.
inperspective: Menschen, die etwas verändern wollen, brauchen oft Vorbilder. Welche Unternehmen leisten in den Themen, die wir besprochen haben, Pionierarbeit?
Laura Venz: Es gibt viele Unternehmen, die diese Themen erfolgreich fokussieren. Das sind diejenigen, die Diversitätsinitiativen – sogenanntes Diversity Management - gestartet haben und Diversität tatsächlich leben. Und das nicht erst heute, wo Diversität auch ein Marketingthema ist. Ich erinnere noch einmal an das Phänomen des Diversity Washing. Das sind Unternehmen, die zum Beispiel Psychologinnen und Psychologen fest mit an Bord haben. Diese sorgen dafür, dass es regelmäßige Diversitäts-Workshops gibt und die die Zusammenarbeit in diversen Belegschaften fördern. Dabei ist ein gutes Diversity Management keine Frage der Unternehmensgröße oder Branche. Es gibt auch zahlreiche Erfolgsgeschichten in KMU, Start-ups, Behörden und Vereinen.