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Prof. Ingo Froböse: »Diese Gesundheitsmaßnahmen halte ich für unsinnig«

Das Büro kann ein gesundheitsgefährdender Ort sein. Daher müssen Unternehmen die Mobilität ihrer Beschäftigten schützen. Wie? Das weiß Prof. Ingo Froböse.

Etwa 80.000 Stunden verbringen Wissensarbeiterinnen und -arbeiter in ihrem Berufsleben im Bürostuhl. Eine dramatische Zahl – gilt doch das Sitzen in Forschungskreisen als das neue Rauchen. Wann das Office ein gesundheitsgefährdender Ort ist und wie Unternehmen die Mobilität ihrer Beschäftigten schützen, weiß Prof. Ingo Froböse.

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von Juliana Meyruhn

inperspective: Herr Froböse, in Deutschland gibt es etwa 18 Millionen Bildschirm - und Büroarbeitsplätze. Viele dieser Menschen verbringen bis zu acht Stunden und mehr am Schreibtisch, und das vor allem sitzend. Das ist dramatisch, denn Forscherinnen und Forscher bezeichnen das Sitzen als das »neue Rauchen«. Was halten Sie von diesem Spruch?

Ingo Froböse: Er trifft völlig zu. Das Sitzen symbolisiert die körperliche Inaktivität des Menschen. Die Sitzenden üben zu wenig Reize auf ihren Körper aus, die für ein gesundes Leben aber zwingend notwendig sind. Deswegen ist das Sitzen ebenso wie das Rauchen ein »Feind« der Gesundheit.

inperspective: Menschen verweilen im Durchschnitt 9,2 Stunden in dieser Position – täglich. Wenn nach dem üblichen Arbeitstag noch ein Geburtstagsessen folgt, sogar länger. Was macht das Sitzen so attraktiv?

Ingo Froböse: Evolutionsbedingt sitzt der Mensch gerne und viel. Früher war das Sitzen sogar ein Privileg. Dem Adel war es erlaubt - dem »gemeinen« Volk blieb es zumeist verwehrt. Anders verhält es sich mit körperlicher Anstrengung: Joggen und Kraftsport sind evolutionär gesehen Aktivitäten, die der Mensch nicht unbedingt ausüben will. Der Körper ist auf das Energiesparen ausgelegt - und weniger auf Energieverschwendung. Deshalb ist das Sofa für die meisten Menschen viel attraktiver.

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inperspective: Das Sitzen liegt, wenn man es vereinfachen möchte, den Menschen in den Genen. Was passiert mit dem Körper, wenn wir am Arbeitsplatz zu lange sitzen?

Ingo Froböse: Zu lange Sitzzeiten führen zu negativen Veränderungen im Körper. Stoffwechsel und Kreislauf verlangsamen sich kurzfristig. Betroffene werden müde und träge, sind unaufmerksam, sogar Schwindel droht. Langes Sitzen schädigt außerdem die Gelenkknorpel. Ein typisches Beispiel: Eine Person steht auf und die nachfolgenden Bewegungsabläufe fallen ihr zunächst schwer.

inperspective: Sie sprechen von kurzfristigen Erscheinungen. Wie äußern sich Langzeitfolgen?

Ingo Froböse: Der Körper passt sich der Inaktivität an. Er baut Muskelmasse ab, Knochenstrukturen werden spröde und Faszien können verkleben. Außerdem wird das Gehirn beim Sitzen suboptimal durchblutet. Auch Herz, Leber, Nieren und Magen-Darm-Trakt leiden unter der Inaktivität. Diese Organe werden langfristig nicht mehr so gut arbeiten, wenn Mitarbeitende ständig zu lange sitzen.

»Je seltener Mitarbeitende sitzen, desto besser ist das für ihre Gesundheit.«

inperspective: Eine bekannte Volkskrankheit, die durch ständiges Sitzen ausgelöst wird, sind Rückenschmerzen.

Ingo Froböse: 80 Prozent der Menschen in Deutschland hatten und haben Rückenschmerzen bereits oder werden sie irgendwann in ihrem Leben bekommen. Der Rücken ist die »Schlechtwetterecke« des Körpers, weil sich dort alles, was wir bewegungstechnisch im Alltag falsch machen, manifestiert. Die Forschung erwartet, dass bis 2030 etwa 25 Millionen Deutsche einmal im Jahr über Rückenschmerzen klagen werden.

inperspective: Die Wissenschaft weiß nicht erst seit gestern, dass Sitzen Rückenschmerzen begünstigen kann. Warum gibt es bis heute keine adäquate Lösung für den Arbeitsplatz?

Ingo Froböse: Weil Rückenschmerzen immer da sein werden. Wir können sie nie aus unserer Gesellschaft verbannen. Rückenschmerzen sind wie Schnupfen: Menschen bekommen sie einfach. Manche können auch gar nichts dafür. Dennoch provoziert das ständige Sitzen diese Krankheit. Wir können Rückenschmerzen nicht verhindern, aber dafür sorgen, dass sie deutlich seltener auftreten.

inperspective: Wie lange sollten Arbeitnehmende maximal sitzen?

Ingo Froböse: So wenig wie möglich. 

inperspective: Verkürzt stundenlanges Sitzen die Lebenserwartung?

Ingo Froböse: Selbstverständlich. Generell führt Bewegungsmangel weltweit zu 4,5 Millionen Todesfällen pro Jahr. In Europa sind es 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen, die jedes Jahr früher sterben, weil sie sich zu wenig bewegen.

»Das Treppenhaus ist die beste Trainingsstätte des Alltags«

inperspective: Wir haben nun ausführlich über körperliche Erkrankungen gesprochen. Kann das zu viele Sitzen auch die psychische Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beeinflussen?

Ingo Froböse: Ja. Wenn Arbeitnehmende einer mentalen Belastung ausgesetzt sind, brauchen diese Personen ein anderes Ventil. Das ist im besten Fall Bewegung. Bleibt dieses Ventil durch fehlende körperliche Aktivität verschlossen, potenzieren sich die Stresshormone. Im Worst Case führt das zu einem Burn-out. Gibt es keine psychisch-physische Balance am Arbeitsplatz, wird die mentale Gesundheit definitiv negativ beeinflusst.

inperspective: Büros sind häufig darauf ausgelegt, dass Mitarbeitende viel Zeit an ihrem Schreibtisch verbringen. Wie sollten Unternehmen das Office in Zukunft »verstehen«?

Ingo Froböse: Sie müssen es »bewegter« gestalten, und zwar bezogen auf Körper und Geist. Die Monotonie des ständigen Sitzens mit dem Blick auf den Bildschirm sollte ein Update erfahren. Mitarbeitende brauchen neue Impulse, andere Belastungssysteme.

inperspective: Was können Innenarchitektinnen und Innenarchitekten bei der Planung eines Büroraums besser machen?

Ingo Froböse: Das Geheimnis ist, dass sie Bewegung unauffällig erzwingen. Es ist viel effektiver, wenn sich Arbeitnehmende zwangsläufig bewegen müssen, als dass wir auf einen freiwilligen Bewegungsdrang hoffen. Planende könnten zentrale Druckerstationen, Kommunikationsorte und Pausenbereiche schaffen, die sich nicht in unmittelbarer Nähe der Schreibtische befinden. Sie können den Aufzug so langsam wie möglich einstellen. Das nervt die Mitarbeitenden und macht den Fahrstuhl auf Dauer unattraktiver als die Treppe. Das Treppenhaus ist die beste Trainingsstätte des Alltags. Bewusst Wege zu gehen und Schritte im Bürogebäude zu sammeln, ist das A und O.

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inperspective: Welche weiteren Möglichkeiten gibt es für Unternehmen, mit denen sie mehr Bewegung in den Arbeitsalltag integrieren?

Ingo Froböse: Bewegung kann schon morgens umgesetzt werden. Die Mitarbeitenden könnten den Weg zur Arbeit etwas aktiver gestalten, indem sie das Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Die Arbeitgebenden sollten daher über ein Fahrradleasing nachdenken. Fitness-Parkplätze für Autos sind auch eine Idee. Sie sind weit vom Gebäude entfernt, müssen Angestellte Schritte sammeln.

inperspective: Wie wäre es mit Bewegung in der Pause?

Ingo Froböse: Ich würde eher von »Bewegungspausen« sprechen. In Japan gibt es das schon: Zwei- bis dreimal am Tag steht eine ganze Firma gleichzeitig auf und macht Gymnastik. Gezielte und strategische Bewegungspausen braucht jedes Unternehmen. Das lässt sich auch gut über ein gemeinsames Intranet umsetzen.

Morgens kann Sport getrieben werden: Arbeitgebende können mittels Fahrradleasing Anreize für eine aktive Gestaltung des Arbeitsweges schaffen.

inperspective: Das Sitzen im Büro lässt sich realistischerweise auf Dauer nicht vermeiden. Stuhl und Tisch bleiben unverzichtbar. Doch wie sieht ein gesundes und bewegtes Mobiliar aus?

Ingo Froböse: Es muss variabel sein. Das heißt: Ein Stuhl darf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht behindern und sollte eine gewisse Bewegungsfreiheit zulassen. Er darf aber keine Rollen haben. Diese Stühle verleiten uns dazu, im Raum hin und her zu gleiten, also Bewegung zu vermeiden. Nur die Sitzfläche sollte sich nach rechts und links, nach vorn und hinten bewegen können.

inperspective: Und bei den Tischen – was wäre da Ihr Wunsch?

Ingo Froböse: Eine Oberfläche, die sich automatisch verändert.

inperspective: Inwiefern?

Ingo Froböse: Ich denke an ein Programm, das die Schreibtische automatisch bewegt. Es verändert die Arbeitsfläche in zeitlichen Rhythmen, sodass sie mal kippt, mal auf und ab fährt. Diese Veränderungen dürfen nicht in der Hand des Mitarbeitenden liegen, sondern müssen vorgegeben sein.

inperspective: Warum reicht es nicht, wenn die Beschäftigten sie selbst steuern und auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen?

Ingo Froböse: Weil die meisten ihren Tisch nicht von allein hochfahren würden – weil sie auch dafür zu bequem sind. Da kommen wir wieder zu dem Punkt, dass Unternehmen die Bewegung zu den Arbeitnehmenden bringen müssen. Mit dieser automatischen Steuerung müssen die Beschäftigten nicht mehr darüber nachdenken, ob sie den Tisch hochfahren. Er tut es von selbst. Sie vergessen es nicht mehr und werden indirekt zum Aufstehen gezwungen. Eine Win-win-Situation für die Gesundheit.

inperspective: Wie oft sollte sich diese Position im Laufe eines Arbeitstages ändern?

Ingo Froböse: Ich empfehle einen stündlichen Wechsel. Allerdings sollten Arbeitnehmende nur zeitweise vor dem Bildschirm sitzen oder stehen. Sie müssen auch andere Wahrnehmungssysteme stärker aktivieren. Das heißt, um die Augen - also das Visuelle - zu entlasten, sollten mehr akustische Arbeitsprozesse stattfinden.

inperspective: Warum ist das wichtig?

Ingo Froböse: Menschen sind total visuell geprägt. Sie gehen nach Hause und schalten nach acht bis zehn Stunden Bildschirmarbeit zu Hause noch Netflix ein. Der visuelle Kanal bekommt wenig Ruhe. Genau das führt wahrscheinlich zu einer Überforderung, weil das Gehirn die Eindrücke kaum verarbeiten kann. Wir Menschen haben so viele Sinnesorgane, warum nutzen wir sie nicht? Das Walk and Talk ist eine geeignete Umsetzung. Es entlastet die Augen und sorgt für Bewegung.

inperspective: Wie funktioniert Walk and Talk?

Ingo Froböse: In der Zeit, in der Mitarbeitende Videogespräche führen, können sie auch klassisch telefonieren. Und mit dem Smartphone in der Hand ist das Hin- und Hergehen viel einfacher. Ich gehe oft bewusst im Wald spazieren, trage Kopfhörer mit Mikrofon-Funktion und telefoniere mit Kolleginnen und Kollegen. Das Smartphone verbindet Bewegung mit Arbeit. Warum sollten Arbeitnehmende diese Chance nicht für ihre Gesundheit und mehr Abwechslung nutzen?

inperspective: Wie kann Walk and Talk im Bürogebäude funktionieren?

Ingo Froböse: Indem funktionale Räume geschaffen werden, die genau dafür Platz bieten. Hier können sich Beschäftigte auch in Präsenz treffen. Dann aber nicht für Sitzungen, sondern für »Stehungen«. Kreative Prozesse profitieren besonders von diesem Format.

Telefonate mit dem Smartphone beim Spazieren verbinden Bewegung mit Arbeit und sorgen für Abwechslung.

inperspective: Bietet so ein Funktionsraum Platz für eine obligatorische Yoga-Stunde? 

Ingo Froböse: Obligatorische Sportangebote halte ich für unsinnig, weil sie meist nur von den Mitarbeitenden wahrgenommen werden, die sich ohnehin gerne bewegen. Natürlich fühlen sich manche wertgeschätzt, wenn sie ihren Lieblingssport am Arbeitsplatz ausüben können. Aber einen Kurs, der allen gefällt, wird es nie geben. Und eine Pflichtstunde pro Woche wird die körperliche Gesundheit auch nicht verbessern.

inperspective: Wie erreicht das Unternehmen dann die Menschen, die keine Affinität zum Sport haben?

Ingo Froböse: Durch die Vorbildfunktion der Führungsebene. Sie sollten genau das vorleben, was sie sich von ihren Angestellten wünschen. Führungskräfte können ein Belohnungssystem einführen: Arbeitnehmende, die sportlich aktiv sind, bekommen ein bis zwei Tage mehr Urlaub. Sie sind vergleichsweise weniger krank - und das spart dem Unternehmen Kosten. Das heißt: Bleiben die Mitarbeitenden gesund, werden sie dafür belohnt. Wenn ein solches System greift, würden Menschen, die ungesund leben, automatisch mehr auf sich achten.

inperspective: Abschließend: Wenn Sie Ihr eigenes gesundes Büro gestalten: Was sind Ihre drei Must-haves?

Ingo Froböse: Erstens: Ein attraktives Treppenhaus. Zweitens: Eine betriebliche Pausenkultur mit aktiven Einheiten. Drittens: Ein gesundes Arbeitsleben, das von der Führungskraft vorgelebt wird.