Fördert der Obstkorb im Pausenraum wirklich die Gesundheit? Oder ist Bewegung der Schlüssel für ein besseres Wohlbefinden der Mitarbeitenden? Wie Planer:innen sportliche Maßnahmen im Büro umsetzen können, weiß Gesundheitsmanagerin und Sporttherapeutin Marie John.
von Juliana Meyruhn
Die Expertin
Marie John, 31, ist betriebliche Gesundheitsmanagerin und unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung einer gesunden Arbeitsumgebung. Ihre Leidenschaft: Menschen zu einem aktiven und sportlichen Leben motivieren. Marie lebt in Fulda.
inperspective: Marie, fast 50% der Menschen in Deutschland zählen zu Bewegungsmuffeln. Du als aktive Läuferin kannst das bestimmt gar nicht nachvollziehen.
Marie John: Ich persönlich brauche eher weniger Motivation. Wenn ich morgens laufe, ist das für mich ein Gefühl von Freiheit. Alles schläft und ich kann in der puren Natur meiner Leidenschaft nachgehen. Das gibt mir sehr viel - vor allem Kraft für meinen beruflichen Alltag.
inperspective: Als betriebliche Gesundheitsmanagerin mit Fokus auf Sporttherapie beschäftigst du dich beruflich mit Bewegung und einem gesunden Leben. Was ist das Ziel deiner Arbeit?
Marie John: An erster Stelle möchte ich aufklären. Ich habe schon in vielen Unternehmen gearbeitet. Ob extern oder angestellt: Immer wieder musste ich erfahren, wie stiefmütterlich das betriebliche Gesundheitsmanagement behandelt wird.
inperspective: Inwiefern stiefmütterlich?
Marie John: Den Mitarbeitenden werden Maßnahmen ohne Bedarfsanalyse vor die Füße geworfen. Es ist nunmal nicht nur der Obstkorb, der frei zugänglich sein soll.
Jetzt inperspective snacks kostenlos abonnieren
inperspective: Obst ist immerhin gesünder als Kekse oder Chips auf dem Küchentisch.
Marie John: Viele Mitarbeitenden verstehen nicht, warum der Obstkorb überhaupt dort steht. Äpfel oder Bananen sind Lebensmittel, die sich die meisten selbst leisten können. Wenn ich mit Arbeitnehmenden darüber spreche, wollen sie keinen Obstkorb. Sie fragen sich eher, warum das Geld, das monatlich für Obst ausgegeben wird, nicht auf ihrem Konto landet. Andere vertragen vielleicht gar kein Obst, sondern hätten lieber Brot mit Hummus. Das Unternehmen muss herausfinden, was sich die Mitarbeitenden wünschen. Nur so kann BGM funktionieren.
inperspective: Angenommen, die Bedarfsanalyse glückt und Unternehmen finden heraus, was sich die Arbeitnehmenden wünschen: Welche Vorteile hat dann eine funktionierende gesundheitliche Organisation für alle Beteiligten?
Marie John: Die Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeitenden verbessert sich. Helga aus der IT-Abteilung und Markus aus dem Vertrieb fühlen sich individuell geschätzt. Sie spüren, dass sie nicht nur für die Arbeit da sind, sondern dass sie auch menschlich anerkannt werden. Daraus resultiert eine bessere Gesundheit und weniger Krankentage. Wovon wiederum die Unternehmen profitieren.
inperspective: Wie viel kostet ein Krankentag?
Marie John: Je nach Größe des Unternehmens sind es ungefähr 200 bis 500 Euro pro Tag pro Mitarbeitende. 2021 haben die krankheitsbedingten Fehltage der deutschen Wirtschaft etwa 89 Milliarden Euro gekostet.
inperspective: Zahlreiche Studien beweisen, dass mangelnde Bewegung krank macht. Kann fehlende Bewegung im Büro dazu führen?
Marie John: Auf jeden Fall kann mangelnde körperliche Aktivität im Büro gesundheitliche Probleme verursachen – und zwar körperliche und mentale. Das ist mir wichtig zu erwähnen, weil psychisch Erkrankte deutlich länger ausfallen als Menschen mit Muskel-Skelett-Beschwerden.
inperspective: Welche Krankheiten treten am häufigsten auf?
Marie John: Mitarbeitende verbringen sehr viel Zeit auf Arbeit und das ohne ausreichende Bewegungsmöglichkeiten, zumeist sitzend. Wenn Arbeitnehmende in ihrer Freizeit auch kaum Sport treiben und sich nicht gesund ernähren, können daraus Mehrgewicht und damit verbundene Knie- oder Rückenschmerzen resultieren. Außerdem häufen sich Depressionen aufgrund von Unzufriedenheit. Deswegen sollten Unternehmen im Büro Sportmöglichkeiten anbieten.
inperspective: Angenommen Sport wird als Maßnahme in das BGM aufgenommen: Wie können Architekt:innen die Umsetzung von mehr Bewegung und Sport ermöglichen?
Marie John: Tageslicht ist besonders wichtig. Es sollte viele und große Fenster geben. Denn Helligkeit stärkt die Motivation, überhaupt etwas zu tun. Dann sollte es Aktivitätsbereiche geben, in denen sich Mitarbeitende stretchen oder ein kleines Workout absolvieren. Für die Entspannung der Augen eignen sich Naturelemente wie Holz. Außerdem bin ich im »Team Treppe«. Im Bürogebäude sollte es neben dem Fahrstuhl immer einen Zugang zu einem öffentlichen Treppenhaus geben.
inperspective: Wie sollten Architekt:innen eine Arbeitsumgebung einrichten?
Marie John: Die Abwechslung zwischen sitzender und stehender Arbeitshaltung macht einen erheblichen Unterschied. Höhenverstellbare Schreibtische sollten immer vorhanden sein. Stühle ohne Lehne und beweglicher Sitzfläche sind rückenschonend, da sich das Becken immer anpasst und bewegt. Ich habe auch so einen. Das Hin- und Herschaukeln fördert meine Kreativität unheimlich. Flexible Arbeitsbereiche sorgen zudem für Bewegung.
inperspective: Wie können solche flexiblen Arbeitsbereiche aussehen?
Marie John: Als Erstes fallen mir Grünflächen auf dem Dach oder im Innenhof ein. Sie eignen sich zum Spazieren oder ein Workout. Mitarbeitende können diese Art Garten für Calls an der frischen Luft nutzen. Sie müssten nicht mehr ständig an ihrem Platz sitzen.
inperspective: Wie stehst du zum Fitnessstudio im Büro?
Marie John: Das hängt vom Budget des Unternehmens ab. Der Raum und die notwendigen Utensilien sind sehr teuer. Deswegen sollte das Unternehmen mit Hilfe der Bedarfsanalyse erstmal herausfinden, ob ein Bedürfnis nach Sport oder Sportkursen wirklich existiert.
inperspective: Welche Alternative würdest du als Sportlerin empfehlen?
Marie John: Einen Raum, in dem sich alle individuell bewegen können. Ich empfehle funktionales Training. Das sind Bewegungen, die mehrere Muskelgruppen beanspruchen. Dafür braucht man nur das eigene Körpergewicht oder ein paar kleinere Gewichte. Wichtig sind rutschfester Boden und Spiegel, damit die Aktiven sehen können, ob sie die Übungen richtig ausführen. Genauso kann Neuroathletik in diesem Raum stattfinden, das sind kognitive Übungen für das Gehirn. Mitarbeitende sollten sich bewusst sein, warum sie Sport machen. Die Antwort: Um fitter im Alltag und im Beruf zu werden.
inperspective: Wollen Menschen überhaupt während der Arbeit trainieren?
Marie John: Das hängt alles vom individuellen Zeitmanagement ab. Manche bevorzugen Bewegung eher nach der Arbeit. Neulich habe ich mit einem Arbeitnehmer gesprochen und ihm einen Mittags-Laufkurs angeboten. Er möchte das aber beispielsweise nicht, weil es im Büro keine Duschen gibt.
Jetzt inperspective snacks kostenlos abonnieren
inperspective: Müssen die Arbeitgebenden Duschen gewährleisten?
Marie John: Selbstverständlich. Vor allem, wenn ein Fitnessraum existiert. Bietet das Unternehmen körperliche Aktivitäten an, muss es weiter denken. Nicht nur Duschen sind erforderlich. Umkleiden für jedes Geschlecht sind genauso wichtig. Ist man im Fitnessstudio angemeldet, möchte man sich doch nach dem Workout auch erfrischen. Unternehmen und Mitarbeitende müssen verstehen, dass BGM nicht für die Freizeit gedacht ist – sondern für den Arbeitsalltag
inperspective: Neben fehlenden Duschen - was war die erschreckendste Situation, die du bisher als Gesundheitsmanagerin in Bezug auf Sport im Unternehmen erlebt hast?
Marie John: Eine Situation ist mir neulich sehr stark negativ aufgefallen: Es gab ein Laufkurs-Angebot im Unternehmen. Aber nur für die Mitarbeitenden, die noch nie laufen waren und generell etwas unsportlich sind. Die »Gruppe« von Mitarbeitenden, die öfter laufen gehen, haben kein Angebot bekommen. Dadurch werden negative Werte vermittelt. Mitarbeitende werden »bestraft«, nur weil sie bereits gesundheitsbewusst leben. Das verdient die gleiche Unterstützung wie für die, die noch am Anfang stehen.
inperspective: Angenommen es gibt einen Fitnessraum, inklusive Umkleiden und Duschen. Dienstags um 12:00 Uhr trifft sich die Yoga-Gruppe zum gemeinsamen Workout: Welche Vorteile hat das neben der eigentlichen Aktivität noch?
Marie John: Es fördert das Team ungemein. Kolleg:innen führen private Gespräche und lernen sich gegenseitig noch mal auf neuen Ebenen kennen. Anders als im Anzug unterhalten sie sich in Sportklamotten weniger über Umsätze, die in den vergangenen Wochen generiert wurden. Die Stimmung ist eine andere.
inperspective: Inwiefern?
Marie John: Beispiel: Ich habe eine Laufgruppe von verschiedenen Mitarbeitenden drei Monate begleitet. Alle sind immer in Sportkleidung zum Treffen gekommen. In der letzten Woche bat ich sie, in ihrer Arbeitskleidung zu erscheinen. Vorher waren alle immer sehr offen miteinander und haben über Gott und die Welt geplaudert. Doch bei der letzten Begegnung war es anders.
inperspective: Was ist passiert?
Marie John: Es war amüsant, aber dennoch sehr still an diesem Tag. Mit der Arbeitskleidung kommen ganz andere Werte rüber und die Körpersprachen haben sich total verändert. Als beispielsweise Männer auf einmal Anzüge trugen, die sonst in kurzer Sporthose und T- Shirt zum Training kamen, wurden manche Frauen ganz rot und genierten sich. Vorher war es eher freundschaftlich und aufgeschlossen, als kannten sich alle schon seit Jahren.
inperspective: Was hast du daraus gelernt?
Marie John: Dass Mitarbeitende durch Sport im Büro oder während der Arbeitszeit ihre zwischenmenschlichen Grenzen durchbrechen. Sport sorgt für eine gemeinsame Wellenlänge. Man spricht über andere Themen als über die Arbeit, motiviert sich gegenseitig und kann den Stress loslassen. Außerdem nimmt man das das ganze Miteinander lockerer. In Sportklamotten fühlt sich keiner anderen über- oder unterlegen. Doch die Situationen sind trotzdem von den Generationen der Mitarbeitenden abhängig.
inperspective: Wie meinst du das?
Marie John: Ich erlebe oft, dass ältere Generationen sehr skeptisch gegenüber solchen Maßnahmen sind. Junge Menschen gehen anders mit der Arbeit um. Sie sehen sie eher als Lebenszeit und wollen aktiv etwas dafür tun, damit sie Arbeit »leben« können. Die Work-Life-Balance geht bei Gen Z mehr ineinander über. Ältere Damen und Herren sind vielleicht eher froh, wenn solche Hierarchien erhalten bleiben und nicht durch gemeinsame sportliche Aktivitäten verschwinden.
inperspective: Muss die Führungsebene voll und ganz hinter diesen Maßnahmen stehen?
Marie John: Die Kunst ist es, dass Führungskräfte ein Bewusstsein für Gesundheit haben. Denn nur so können sie auch wollen, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Leben sie das nicht vor, können sie von ihren Arbeitnehmenden kein aktives und gesundes Verhalten auf der Arbeit verlangen. Beispielsweise könnten die Geschäftsführungen Challenges wie »Schritte zählen« oder »Wasser trinken« unter den Abteilungen veranlassen und selbst mitmachen.
Jetzt inperspective snacks kostenlos abonnieren
inperspective: Remote und Homeoffice: DIE Wörter der letzten drei Jahre im Zusammenhang mit der Arbeit. Und noch immer bleiben im Office viele Plätze leer. Angenommen, es besteht die Möglichkeit, im Büro zu trainieren: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeitende den gemeinsamen Arbeitsort wieder mehr wertschätzen?
Marie John: Fakt ist, dass mittlerweile schon sehr viele Online-Angebote existieren. In Form von digitalen Workouts. Dennoch sind viele Menschen durch das Homeoffice einsam geworden und im schlimmsten Fall sogar psychisch erkrankt. Deswegen sind Sportkurse oder ein Fitnessraum definitiv Argumente dafür, wieder mehr ins Büro und somit unter Menschen zu kommen. Zwei Vorteile hat es jedenfalls: Mitarbeitende tun was für ihre Gesundheit und füllen ihren sozialen Tank.
inperspective: Welche Vorteile hat ein gut strukturiertes und durchdachtes BGM letztendlich für das Unternehmen?
Marie John: Neben weniger Krankentagen und Kosten wird die Arbeitsatmosphäre einfach angenehmer. Mitarbeitende werden produktiver, wenn sie die Bemühungen des Unternehmens spüren. Das führt zu mehr Motivation und einer größeren Verbundenheit zum Unternehmen. Das ist in den meisten Fällen wichtiger als Geld und Urlaub. Ein Unternehmen, welches sich individuell um die Gesundheit der Mitarbeitenden kümmert, hat zudem einen besseren Ruf. Denn sind wir mal ehrlich: Bewerber:innen interessieren sich nunmal mehr für Unternehmen, die erwiesenermaßen etwas für ihre Mitarbeitenden tun. Personen bleiben länger im Unternehmen und die Fluktuation sinkt. Und ältere Mitarbeitende sind vielleicht noch so fit und motiviert, dass sie die Frührente freiwillig aufschieben.
inperspective: Welchem Unternehmen gelingt das BGM schon sehr gut?
Marie John: Fünf Personen aus meinem nahen Umfeld sind vor Kurzem zu Engelbert Strauss gewechselt. Die Geschäftsführenden leben Gesundheit vor und geben diese Werte an ihre Mitarbeitenden weiter. Es gibt frisch zubereitetes Mensa-Essen und das Unternehmen unterstützt bei Vorsorgeuntersuchungen. Sie bieten einen Fitnessraum, Massagen und Sport- und Outdoorkurse an.
inperspective: Marie, zum Abschluss: Was sind deine Must-Haves für mehr Sport und Bewegung in deinem Traumbüro?
Marie John: Abgesehen von höhenverstellbaren Tischen und Bewegungsstühlen braucht mein Traumbüro eine Geschäftsführung, die sportliche Maßnahmen umsetzt und dabei auf die individuellen Wünsche der Mitarbeitenden eingeht. Ein Multifunktionsraum oder ein Garten, die Platz für mobile Calls, Workouts oder Sportgruppen bieten. Verbindlich dazu muss es Duschräume und Umkleiden geben.