Stress ist unvermeidbar, doch er lässt sich managen und langfristig reduzieren. Äußerst wichtig: eine gesunde Arbeitsumgebung. Stress-Expertin Lisa Wittmann, die selbst einmal eine Extremphase überstand, verrät, wie Architekt:innen die passenden Räume gestalten können.
von Elena Stenczl
Die Expertin
Lisa Wittmann, Jahrgang 1994, ist Burnout-Coach sowie eine der zehn LinkedIn Top Voices im Bereich Achtsamkeit und mentale Gesundheit. Ihr Spezialgebiet: Stressmanagement im Businessalltag. Lisa Wittmann lebt in Stuttgart.
inperspective: Frau Wittmann, es gibt mehr als nur »die eine Art von Stress«. Was ist Ihre Definition?
Lisa Wittmann: Stress ist das, was man daraus macht. Menschen können ihn nutzen und eine Weile produktiver sein. Aber Vorsicht: Auf Dauer macht er immer krank.
inperspective: Also sollte man Stress besser vermeiden.
Lisa Wittmann: Das ist unmöglich. Stress ist eine natürliche Anpassungsreaktion des Körpers auf sich verändernde Umstände. Dieser Schutzmechanismus läuft seit Beginn der Menschheit immer ähnlich ab: Der Mensch wittert eine Gefahr, der Körper schüttet verschiedene Hormone aus, die ihn leistungsfähiger machen. Begegnete unseren Vorfahren ein Säbelzahntiger, konnten sie durch diese biologische Reaktion flüchten oder kämpfen. Heutzutage messen wir uns selten mit gefährlichen Tieren.
inperspective: Das klingt grundsätzlich positiv.
Lisa Wittmann: Das Problem ist: Heute lösen Situationen Stress aus, die meistens länger andauern als animalische Begegnungen. Wir sind der Anspannung deutlich länger ausgeliefert. Auch weil ein Reiz den nächsten jagt, fehlt Zeit zur Regeneration.
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inperspective: Allein in Deutschland kommen jedes Jahr 126 Millionen Krankentage aufgrund von Stress zustande. Zwei von drei Deutschen fühlen sich im Job gestresst. Tendenz steigend. Die Arbeitsatmosphäre wird als zweitgrößter Faktor genannt.
Lisa Wittmann: Jeder Mensch fühlt sich individuell von anderen Faktoren gestresst. Aber natürlich gibt es häufig auftretende Ursachen: beispielsweise schlechte Führung, mangelhafte Kommunikation und Zeitdruck.
inperspective: Wodurch wird Stress räumlich betrachtet im Büro ausgelöst?
Lisa Wittmann: Die Lärmbelästigung kann ein Problem sein. Das Klackern der Tastaturen, laute Telefonate, die Gespräche an der Kaffeemaschine. Ein weiterer Stressfaktor ist womöglich die Beleuchtung. Grundsätzlich ist die Atmosphäre von Räumen beim Thema Stress sehr wichtig.
inperspective: Was passiert mit einem Menschen, den sein Arbeitsplatz dauerhaft stresst?
Lisa Wittmann: Er fühlt sich unwohl und verhält sich somit nicht natürlich. Im Fachjargon sprechen wir von einer »emotionalen Dissonanz«. Die daraus resultierende Unzufriedenheit führt wiederum zu Dauerstress. Die Symptome sind so individuell wie der Stress selbst. Einige klagen über Kopfschmerzen, Verspannungen und Schlafstörungen, anderen schlägt die Situation auf den Magen.
inperspective: Was hältst du als Expertin für Stressmanagement von Großraumbüros?
Lisa Wittmann: Es mag überraschen, aber ich habe nichts gegen sie. Planende sollten jedoch die Individualität der Mitarbeitenden berücksichtigen und verschiedene Optionen bieten: Rückzugsmöglichkeiten innerhalb des Raumes, Bereiche für konzentriertes Arbeiten, aber auch welche zum Entspannen.
inperspective: Besser ist vermutlich ein eigenes Büro, doch nicht alle kommen in diesen Luxus. Wie können Architekt:innen auch im Großraumbüro persönlich individualisierbare Plätze schaffen?
Lisa Wittmann: Beliebt sind Raumtrenner aus Glas. Sie sollen abgrenzen, ohne dass die luftige Atmosphäre des Büros darunter leidet. Doch gläserne Telefonzellen und Konferenzräume schaffen nur wenig Privatsphäre. Menschen brauchen Orte, an denen sie sich unbeobachtet fühlen. Dort können sie Anspannungen ablegen. Daher rate ich zu halbhohen Wänden oder Raumteilern zwischen den Schreibtischen. Idealerweise bestehen sie aus geräuschschluckenden Materialien wie Holz, Filz oder Schaumstoff.
inperspective: Wir halten fest: Verschiedene Räume und Zonen für verschiedene Bedürfnisse. Separation für Privatsphäre. Gibt es noch einen besonderen Kniff, der Mitarbeitende bei der Stressreduktion hilft?
Lisa Wittmann: Bewegung! Sie hilft nachweislich beim Abbau von Stresshormonen. Architekt:innen können Büros so konzipieren, dass Mitarbeitende längere Wege zur Toilette, in die Küche oder zum Drucker zurücklegen müssen. Auch Stufen bringen Bewegung in den Arbeitsalltag. Wieso nicht ein Großraumbüro auf mehreren Etagen planen? Nebenbei wirken sich Perspektivwechsel positiv auf das Wohlbefinden und die Kreativität aus.
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inperspective: Was zwar nach Bewegung, aber gleichzeitig nach Stress klingt: Flex Desks. Die Idee dahinter: Es wird sich morgens spontan für einen Platz entschieden. Infolge von Hybrid Work bauen viele Unternehmen feste Arbeitsplätze nach und nach ab. Wie bewertest du dieses Konzept?
Lisa Wittmann: Wer jeden Tag am selben Schreibtisch sitzt, befindet sich in seiner Komfortzone. Dies bietet zwar Sicherheit, kann aber unbewusst Stress auslösen. Ich rate generell dazu, dass Menschen ihre Habitat gelegentlich verlassen. Ein Flex-Desk-Konzept macht genau das möglich. Allerdings müssen die Bedingungen stimmen: Es löst selbstredend Stress aus, wenn es für zehn Mitarbeitende nur fünf gute Fensterplätze gibt.
inperspective: Studien beweisen: Pflanzen wirken sich ebenso positiv auf das Wohlbefinden von Mitarbeitenden aus. Welche Gestaltungselemente noch?
Lisa Wittmann: Idealerweise Tageslicht durch Fenster oder Tageslichtlampen. Aber auch warme Deckenbeleuchtung sowie indirekte Lichtquellen können die Stimmung verbessern. Außerdem machen sich flauschige Teppiche vor einem Bürosofa ebenso gut wie zu Hause im Wohnzimmer. Sie schaffen eine wohnliche Atmosphäre.
inperspective: Sofa und Teppich. Im nächsten Schritt tragen Mitarbeitende dann Hausschuhe. Klingt mehr nach Homeoffice statt Präsenzbüro.
Lisa Wittmann: Hausschuhe am Arbeitsplatz? Fände ich super! Vielleicht nicht zu offiziellen Terminen. Aber grundsätzlich gilt: Je wohler wir uns fühlen, desto geringer ist unser Stresslevel. Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens mit dem Job. Daher sollten sich Mitarbeitende am Arbeitsplatz wohlfühlen.
inperspective: In Übersee schwören Unternehmen auf »Napping Rooms«. Spezielle Räume für das produktive Mittagsschläfchen. Wie stehst du zu diesem Ansatz?
Lisa Wittmann: Ich liebe ihn! Jedes Unternehmen sollte einen Napping Room haben, auch wenn ihn nicht alle nutzen. Die einen gehen in der Pause eben spazieren, die anderen schlafen lieber. Jeder Mensch erholt sich anders. Stichwort: Individualität.
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inperspective: Wir betrachten das Thema Stress sehr kritisch. Lässt er sich nutzen, um die Produktivität und Kreativität der Mitarbeitenden zu steigern?
Lisa Wittmann: Kreativität wird nicht durch Stress gefördert – im Gegenteil! Entspannung macht kreativ. Was es zu beachten gilt: Ein gewisses Stresslevel fördert Konzentration und Produktivität, damit die Leistungsfähigkeit. Benötigt werden also Räume, die An- und Entspannung begünstigen, sodass Raum für Kreativität und Produktivität entsteht.
inperspective: Wie sieht ein guter Entspannungsraum aus?
Lisa Wittmann: Darauf gibt es keine allgemeine Antwort. Während die einen an geselligen Orten abschalten können, brauchen andere absolute Abgeschiedenheit. Eine Mischung aus Rückzugsorten mit Liegemöglichkeiten sowie geselligen Bereichen finde ich angemessen.
inperspective: Was steht in einem Entspannungsraum?
Lisa Wittmann: Definitiv kein Bildschirm. Von Fitnessgeräten bis Relaxliegen ist einiges möglich.
inperspective: Viele bleiben gleich im Homeoffice. Das spart Zeit und Nerven – besonders beim Arbeitsweg. Wie siehst du das Thema?
Lisa Wittmann: Mitarbeitende sollten selbst entscheiden können, wann sie ins Büro kommen und wann nicht – und das ohne große Vorplanung. Oftmals entscheiden sie sich erst am Morgen intuitiv. Wir alle stehen mal mit dem falschen Fuß auf. In diesem Fall tun wir weder uns selbst noch unseren Kolleginnen und Kollegen einen Gefallen, wenn wir unseren Arbeitstag schlecht gelaunt am Schreibtisch absitzen. Wir selbst werden zum Stressfaktor für andere, wenn wir nur aus Zwang ins Büro kommen.
inperspective: Allerdings klagen Mitarbeitende im Homeoffice oft darüber, dass Arbeit und Freizeit stark verschwimmen.
Lisa Wittmann: Das ist für mich gar nichts Schlechtes. Überall ist die Rede von »Work-Life-Balance«. Ein schrecklicher Begriff! Er suggeriert, Arbeit und Leben voneinander trennen zu können – doch das ist utopisch. Wir verbringen einen großen Teil unseres Alltags mit dem Job. Wichtig: Die Arbeit darf die Freizeit aber nicht zurückdrängen oder überschatten. Sie sollte auch nicht das Privatleben ersetzen.
inperspective: Hybrid Work will gelernt sein. Pandemiebedingt wurden Arbeitnehmenden ins kalte Wasser geschmissen, mussten von heute auf morgen von zu Hause arbeiten und wurden sich selbst überlassen. Inwiefern müssen Unternehmen jetzt, drei Jahre später, ihre Mitarbeitenden für einen gesunden Umgang mit sich selbst sensibilisieren?
Lisa Wittmann: Ich ziehe gerne den Vergleich zu Fahrbahnmarkierungen auf der Straße. Sie bieten uns einen Rahmen, in dem wir uns frei bewegen können. Ob wir auch mal über den Streifen hinausfahren, bleibt uns überlassen. Dieses Bild lässt sich auf Unternehmen übertragen: Sie sollten ihren Mitarbeitenden einen empfohlenen Rahmen vorgeben. Wie diese sich in diesem bewegen, liegt in ihrer Verantwortung.
inperspective: Nach dauerhafter Belastung durch Stress folgt in vielen Fällen ein Burnout. Auch du konntest irgendwann nicht mehr. Was hat bei dir dazu geführt?
Lisa Wittmann: Das, was bei allen der Auslöser ist: Eine Kombination aus individuellen und arbeitsbedingten Faktoren.
inperspective: Was meinst du damit?
Lisa Wittmann: Mich betreffend? Ich wollte mich nach einem Jobwechsel beweisen, alles richtig machen. Meine Arbeit hat irgendwann mein Sozialleben ersetzt. Zugleich haben mich enormer Zeitdruck, unklare Rollenverteilungen im neuen Team, strikte Budgetkalkulationen und Personalmangel unter Druck gesetzt.
inperspective: Wie hat sich dein Burnout angekündigt?
Lisa Wittmann: Weit vor dem eigentlichen Tiefpunkt. Ich hatte über lange Zeit Kopfschmerzen und Schlafprobleme. Ich habe nachts von der Arbeit geträumt und private Termine ständig abgesagt.
inperspective: Wieso hast du nicht schon in dieser Phase etwas geändert?
Lisa Wittmann: Ich habe mir selbst etwas anderes eingeredet: »Es kommen wieder bessere Zeiten.«
inperspective: Doch die kamen nicht.
Lisa Wittmann: Mein Körper hat für mich die Notbremse gezogen. Ich hatte eine schmerzhafte Darmschleimhautentzündung. Erst dadurch habe ich begriffen, dass ich bis dahin alle Warnsignale ignoriert habe und dafür nun mit meiner Gesundheit zahle.
inperspective: Wie hat dein Arbeitgeber auf die Diagnose »Burnout« reagiert?
Lisa Wittmann: Ich habe sie zunächst verheimlicht. Stattdessen schob ich meine körperlichen Beschwerden vor. Ich hatte Angst vor der Reaktion meines Arbeitgebers und Kollegiums. Noch immer wird Burnout mit mentaler Schwäche gleichgesetzt. Besonders Männer müssen sich Sätze wie »So was musst du aushalten« oder »Du bist zu empfindlich« anhören. Daher wünsche ich mir von Arbeitgebern mehr Sensibilität, Aufklärung und Prävention.
inperspective: Welche Warnsignale sollten Arbeitnehmende sowie Arbeitgeber erkennen und ernst nehmen?
Lisa Wittmann: Man sollte vorsichtig sein, wenn erstens die Zufriedenheit sinkt und sich generelles Unwohlsein breitmacht. Zweitens, dieser Zustand länger anhält, sich vielleicht verschlechtert. Und drittens, wenn man ungewöhnliches Verhalten an sich oder bei anderen feststellt.
inperspective: Ab wann würdest du von »Burnout-gefährdet« sprechen?
Lisa Wittmann: Ein Burnout bei anderen ist gar nicht so schwer zu erkennen. Es beginnt immer mit übermäßigem Engagement. »Ich übernehme das Projekt. Ich halte die Präsentation. Ich bleibe länger und übernehme das.« Es schaukelt sich hoch. Höher, schneller, weiter – bis zum Fall. Man selbst nimmt diesen Eifer zunächst als beflügelnd wahr, deshalb erkennt man die Gefahr selbst meist zu spät.
inperspective: Es gibt diverse Techniken zur Stressbewältigung – auch am Arbeitsplatz. Welche sind wirksam?
Lisa Wittmann: Ich würde nicht von »Stressbewältigung«, sondern »Stressmanagement« sprechen. Man muss mit Stress klarkommen, aber das auf eine gesunde Art und Weise. Alle relevanten Techniken beruhen auf drei Säulen: Regeneration, Mindset und Selbstmanagement. Was wirkt, ist häufig sehr individuell. Ich empfehle, diverse Ansätze auszuprobieren und sich seinen persönlichen Methodenkoffer zusammenzustellen.
inperspective: Zum Abschluss, du bist die Architektin: Wie sieht für dich das perfekte Büro unter Berücksichtigung mentaler Gesundheit und Stressmanagement aus?
Lisa Wittmann: Mein perfektes Büro hat mehrere Räume und Ebenen. Es bietet viele Arbeitsplätze: am Fenster, in Ruhe, im Stehen, im Liegen. Je nach Aufgaben brauche ich verschiedene Perspektiven. Es ist hell, wohnlich, dennoch minimalistisch und offen gestaltet. Gleichzeitig bietet es Rückzugsmöglichkeiten, in denen ich unbeobachtet bin.