Menü öffnen

Mit Volldampf in die Transformation

Ein einfacher Foodtruck in Barcelona – oder doch Teil einer großen Transformation?

Der Begriff Transformation beschreibt einen elementaren Wandel. Doch oft genug bleiben sogar markanteste Veränderungen für viele Augen verborgen. Um zu sehen, was kommt, lohnt sich der Blick in die Vergangenheit – und zu Foodtrucks auf Parkplätzen. Eine persönliche Einschätzung.

von Hannes Hilbrecht

1. Ghost Kitchen

Diese Transformation findet direkt vor unseren Augen und unter unserer Nase statt, doch können wir sie weder sehen noch riechen. Wir essen "sie" sogar, doch dass sich etwas fundamental verändert hat, was sozusagen das Wesen einer Transformation ist, das schmecken wir nicht. Diese radikale Veränderung ist fast unsichtbar, unschmeckbar, unhörbar und doch ist sie ganz eindeutig da.

Mitentdeckt hat sie die amerikanische Autorin Anna Wiener. In einem Beitrag für das Magazin The New Yorker schrieb sie im vergangenen Sommer:

"Letztes Jahr im Herbst, ich befand mich auf einem Spaziergang durch die Mission Street in San Francisco, bemerkte ich etwas Neues auf einem ansonsten unscheinbaren Parkplatz am Fuße des Bernal-Heights-Hügels: einen großen weißen Anhänger, etwa so breit wie drei Stellflächen. Er war mit einem Transparent mit der Aufschrift "Essen hier abholen" beklebt. Auf der anderen Seite stand eine Liste mit Restaurants. Die Namen und Logos wirkten, als habe ein Algorithmus sie generiert: WokTalk, Burger Bytes, Fork and Ladle, Umami, American Eclectic Burger, Wings & Things.

Der Anhänger war an einem Generator angeschlossen, der sich hinter zwei mobilen Toiletten befand. Durch ein kleines Fenster konnte ich zwei Männer sehen, die sich in einem Raum bewegten, der wie eine Küche aussah. Der Generator brummte; die Luft trug den beruhigenden Geruch von Frittieröl in sich; die Toiletten waren mit Vorhängeschlössern verriegelt. Einer der Männer kam zum Fenster und entschuldigte sich: Ich könne das Essen nicht direkt bestellen, sagte er mir. Ich müsse es über die Apps ordern."

Es geht im Text von Anna Wiener um Restaurants, besser gesagt, um die Weiterentwicklung der Gaststätten, wie wir sie einst kannten. Durch den Lockdown und dem erzwungenen Dichtmachen vieler Lokalitäten hat sich der Wandel im Konsumverhalten der Menschen drastisch beschleunigt. Sie greifen in reichen Industrienationen noch viel häufiger zu den Angeboten von Essenbringdiensten als vor der Krise. Aufs Liefern spezialisierte Firmen wie Delivery Hero gewinnen minütlich an Wert. Und genau das führt zu einer echten Transformation, zu einem Wandel, der wohl bleiben wird.

Früher war der Lieferservice für manche Restaurants ein Beiwerk, dann gab es Fast-Food-Ketten, besonders Pizzabuden, die das Außerhaußgeschäft für sich priorisierten. Und jetzt machen in den ersten Großstädten Restaurants auf, die keine Restaurants mehr sind. Sie haben schöne Fassaden, Schaufenster, Leuchtreklamen, aber keine Sitzbereiche. Der Schein leuchtet nur fürs Marketing.

In diesen "Pseudo-Restaurants" und Foodtrailern wird allein für das Bringgeschäft gekocht und das gleich für mehrere Marken. In den USA gibt es bereits sogenannte Ghost Kitchen in riesigen Kellergewölben. In ihnen brutzeln Köche asiatische, südamerikanische oder italienische Gerichte, aber nicht für echte, erlebbare Etablissements, sondern für den Appstore, für Marken mit bunten Speisekarten und noch griffigeren Claims. Ein Keller, eine Küche für zwölf Restaurants, die nur auf einer Lieferdienstplattform existieren – das ist eine Transformation, die auch Deutschland langsam erreicht.

Jetzt inperspective kostenlos abonnieren

Durch die Corona-Pandemie gewinnen Lieferdienste immer mehr Kunden.

2. Die neue Normalität

Die Menschen sind auf Distanz aus, besser gesagt: Sie müssen es sein. Es gilt die Verbreitung einer Pandemie zu drosseln. Der R-Wert taugt für viele gleichzeitig zum Wort und zum Unwort des Jahres.

Dabei profitieren wir in dieser Zeit davon, dass die Spezies Mensch dazu neigt, sich schnell anzupassen. Wir beobachten es bei unseren Essgewohnheiten: So mancher, der vor einem Jahr noch nie eine Entenkeule mit Rotkraut online geordert hat, kann sich jetzt ein Leben ohne Bratensoße auf Mausklick kaum noch vorstellen. Auch ich kenne solche Leute.

Aber gilt dieses Phänomen, das wir uns an vieles rasch gewöhnen, auch für unsere Arbeitsgewohnheiten? Werden wir nach ein paar Monaten in der zum Büro transformierten Abstellkammer zu Homeoffice-Eremiten, die nie wieder ins Tohuwabohu eines Großraumbüros zurückwollen? Und wie sehen unsere Arbeitswelten aus, wenn es ein Vakzine gibt und Massenimpfungen gelingen, die Welt eine neue Normalität findet?

Im Jahr 2020 durften wir in bisher elf inperspective-Ausgaben mit vielen smarten Köpfen sprechen. Mit Geruchsforschern, Discjockeys, Raumgestalterinnen und Architektinnen, mit Unternehmern von jung bis alt. Wenn manche laut darüber nachdachten, wie sich die Koordinaten unserer Arbeitswelten wohl nach Corona verschieben werden, entfaltete sich wiederholt ein ähnlicher Gedanke: Büros werden mehr Begegnungsort sein als Arbeitsumgebung. Es soll aus den Blasen in den interdisziplinären Austausch gehen. Das Büro mit Präsenzzeit ist nur noch – wenn auch ein wesentliches – Fragment in einem großen Mosaik.

Wolf Lotter, Essayist und Mitgründer der brand eins, sagte kürzlich:

"Es wird hoffentlich rausgehen aus der Bubble. Das heißt auch: raus aus den klassischen Organisationen, wie wir sie derzeit kennen. … Weil wir uns abschotten, denken wir, dass die Welt überall so funktioniert wie in unserer Blase. Das ist aber nicht zielführend, das macht uns nicht klüger, nicht besser. Einflüsse von außen sind wahnsinnig wichtig. Auch in den Büros."

Die Workspace-Expertinnen Nina Leymann und Maxie Pantel schrieben:

"Virtuelle Zusammenarbeit wird auch zukünftig ein entscheidender Baustein unseres Work Universes sein. Gleichzeitig haben wir gelernt, warum manche Kollaborationen erst im persönlichen Kontakt so richtig ins Fliegen kommen. Im Work Universe wird das Büro zum Treffpunkt für den persönlichen Austausch. Wir müssen im Office optimale Voraussetzungen schaffen für Interaktion und Zusammenarbeit. Es gilt, Grenzen zu überwinden und eine eng vernetzte Kollaboration der Mitarbeiter zu ermöglichen."

Jetzt inperspective kostenlos abonnieren

Der Essayist und Buchautor Wolf Lotter gab inperspective ein viel beachtetes Interview.

3. Weltkonzerne – eine brauchbare Schablone

Begegnungsorte also. Denken wir an das Beispiel der "Ghost Kitchen", drängt sich ein einfacher Einfall, eine simple Ableitung auf: Vielleicht verschwinden gar nicht unsere Büros, obwohl so manche Spargebaren von Unternehmen genau das vermuten lassen könnten. Vielleicht ändert sich wie bei den Restaurant-Trailern in San Francisco nicht die Anwesenheit eines Ortes, nicht seine Präsenz, sondern nur seine Funktionalität, sein Zweck.

Um zu sehen, was uns im positiven Sinne blüht, braucht es nicht eine Glaskugel oder das Abo einer guten Wirtschaftszeitung. Es reicht ein Blick in die Vergangenheit der Unternehmen, die bereits vor Jahren dort waren, wo jetzt alle hin wollen – oder hin müssen.

Zu Beginn der Krise zeigte sich eindrucksvoll: Die Unternehmen, die schon vor Corona zukunftsgewandt arbeiteten, gewöhnten sich deutlich schneller an die Folgen des ersten Lockdowns. Firmen, die auch ohne Zwang die Vorteile des partiellen Homeoffices erkannt hatten, profitierten von Mitarbeitern, die in der digitalen Remote-Arbeit bereits trainiert waren. Innovationstreiber der New Work gingen das Thema "Begegnungsort Büro" schon vor geraumer Zeit mit Vehemenz an. Sie machten dabei Fehler, lernten dazu und jetzt – vor allen anderen – profitieren sie von diesen bewährten Strukturen und vergrößern ihren Vorsprung weiter. Wer "Tempel der Abarbeit" zu Begegnungsorten für innovative Wissensarbeit transformieren will, sollte bei den Top-Performern abpausen.

Unternehmen wie Google, Amazon und Airbnb, die ganze Märkte und Branchen veränderten, fokussierten bei ihren Workspace-Designs kollaborative Elemente stärker als alles andere. Wer sich durch Bilderstrecken ihrer Bürowelten klickt, bestaunt Flächen, die Gartenanlagen und Indoor-Spielparks ähneln und nur noch rudimentäre Gemeinsamkeiten mit einem klassischen Büro teilen.

4. Jedes Unternehmen kann nachziehen

Dass nicht nur Unternehmen mit unbegrenzter Cashpower dieses Arbeitswelten kreieren können, beweist ein Mittelständler aus dem Südwesten der USA.

Das Immobilienunternehmen Liv Communities aus Tempe, Arizona, ist auf Seniorenwohnheime und Mehrfamilienhäuser für junge Familien spezialisiert. Die Firma verspricht mit seinem Markenclaim "ungewöhnlich positive Erfahrungen".

Gegenüber den Mitarbeitern hält die Firma dieses Ehrenwort. Das neue Büro wurde von den Architekten unter der Maßgabe "People First" designt. Das neue Büro sollte Menschen in einer kooperativen, komfortablen Umgebung zusammenbringen, die Markenidentität formen und verschiedene Arbeitsweisen ermöglichen.

Entstanden ist ein Office, in dem es vor kommunikativen Flächen wimmelt. In beinahe jedem Abschnitt des Büros dominieren Gruppenarbeitsplätze, Designersofas oder einladende Sitzbänke das Einrichtungskonzept. Der herkömmliche Arbeitsplatz aus Tisch und Stuhl gerät zu einer Nebenerscheinung. Sprachen wir früher  von Kommunikationsinseln, also kleinen Eilanden des Austausches in einem Meer aus Schreibtisch-Stuhl-Regal-Kombinationen, hat sich das Verhältnis bei Liv Communities in Tempe um 180-Grad gedreht. Die Transformation scheint gelungen. 

Zur Bildergalerie:

Epilog:

Erst neulich bin ich zu später Stunde durch meine Lieblingsstraße in Berlin getingelt. 21 Uhr, der Himmel klar, die Luft frostig in der Nase, das favorisierte Lokal, ein Refugium für kalte Abende, allerdings geschlossen. Normalerweise hätten Leute trotz der Jahreszeit draußen im beheizten Pavillon gesessen, natürlich mit Decke möglichst nah am Heizstrahler. Das Essen in diesem Restaurant ist maximal solide, die Preise für Drinks sogar für die Lage etwas unangemessen, und doch gibt es kaum einen geselligeren Ort als diese Tapas-Bar. Gekommen bin ich immer allein wegen der Stimmung. Gegen meinen Lieblingsspanier am Savignyplatz ist das eigene Wohnzimmer chancenlos.

Genau das ist vielleicht die Chance für Büros und Workspaces: Sie müssen mehr Flair, Kommunikation und Euphorie stiften, als es selbst das bequemste Homeoffice jemals könnte. Dann werden sie für Mitarbeiter nie an Bedeutung verlieren.