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Wolf Lotter: "Das ist Eifer zur Dummheit"

Wolf Lotter schreibt als Essayist und Publizist unter anderem für das Wirtschaftsmagazin brand eins.

Wolf Lotter ist erfolgreicher Publizist und Essayist, Mitgründer des Magazins brand eins und konstruktiv zweifelnder Wirtschaftsdenker. Wir haben mit ihm über seine heimische Werkbank und Teamwork gesprochen und darüber, wie sich Organisationen und ihre Büros verändern müssen. 

von Hannes Hilbrecht

inperspective: Herr Lotter, wie oft sehen Sie Ihre Kollegen bei der brand eins?

Wolf Lotter: In diesem Jahr noch gar nicht. Das letzte Mal habe ich sie bei der Weihnachtsfeier gesehen. Allerdings halte ich engen Kontakt mit der Chefredakteurin Gabriele Fischer. Es ist normal, dass wir ausführlichst telefonieren. Wir sprechen über Themen, über das, was wir tun, über das, was uns bewegt.

inperspective: Wie beurteilen Sie die Bedeutung von direktem Kontakt im Alltag?

Wolf Lotter: Ich glaube, dass es nicht so wahnsinnig wichtig ist, dass wir uns permanent auf den Knien sitzen, dass wir uns besonders oft persönlich sehen. Wir haben die technischen Mittel, damit Austausch auch anders funktioniert. Und wenn einmal wirkliche Nähe da war, dann ist es möglich, diese über die Ferne zu halten.

inperspective: Was funktioniert über die Distanz nicht?

Wolf Lotter: Das Vernetzen bei Veranstaltungen. Zumindest nicht so gut. Events sind auch digital möglich, aber das eigentliche Benefit – nicht das Honorar – ist der direkte Austausch mit unbekannten und sehr spannenden Menschen. Aus diesen Gesprächen kann ich immer viel mitnehmen. Digital ist das viel komplizierter als direkt vor Ort.

"Skeptiker des Teambegriffes"

 

inperspective: Fragen wir Personalverantwortliche in Unternehmen, gilt “Teamfähigkeit” als eine der wertvollsten Eigenschaften von Mitarbeitern. Leidet das Teamwork nicht unter dieser neuen Distanz?

Wolf Lotter: Ich bin ein Skeptiker des “Team”-Begriffes, insbesondere davon, wie er in Organisationen verwendet wird. Ich glaube, dass Arbeitsteiligkeit und Teamarbeit völlig unterschiedliche Dinge sind, dass Kooperation in Netzwerken etwas anderes ist als der Arbeitskreis, den wir aus Unternehmen kennen. Und ich denke auch, dass es schwieriger ist, in diesen Konstellationen wirkliche Leistung zu erkennen. Ich arbeite vor allem alleine, und finde das großartig.

inperspective: Sie arbeiten immer alleine?

Wolf Lotter: Natürlich gibt es Projekte, in denen ich mit anderen Leuten gerne zusammenarbeite, die das, was sie tun, sehr gut können. Bei Filmprojekten zum Beispiel. Es geht um Kooperationen mit eindeutigen Kompetenzen und klaren Regeln. Es ist eher ein Meistersängerspiel, in dem jeder die Verantwortung übernimmt, die er tragen kann und tragen soll. Und nicht die in Firmen vielfach praktizierte Geschichte: Wir setzen uns alle in einen Kreis und schauen, was jetzt passiert.

inperspective: Ein hartes Urteil.

Wolf Lotter: Die Corona-Krise hat für mich deutlich gezeigt, dass die, die in normalen Meetings nichts zu sagen haben, auch online nichts sagen können oder wollen. Es reden immer die gleichen Leute. Das sind für gewöhnlich diejenigen, die sich vorbereitet haben, die an der Veranstaltung und dem Austausch ernsthaft interessiert sind. Die anderen sitzen da und nesteln verlegen mit der Maus. Im Zoom-Puzzle können wir das ganz gut beobachten.

Der Autor und seine Werkbank

 

inperspective: Die Organisation des Homeoffice hat während der Corona-Krise für viele Probleme gesorgt. Wie organisieren Sie den eigenen Arbeitsalltag?

Wolf Lotter: Ich habe einen klaren Rhythmus, den ich auch wegen meines kleinen Sohnes etabliert habe. Ich arbeite mittlerweile vormittags, immer nach dem Morgensport, und fange mit einer gewissen Starrsinnigkeit an zu schreiben. Ich erwärme mein Gehirn. Kümmere mich um die Post, beantworte Mails. Sobald ich drin bin im Flow, arbeite ich zwei Stunden sehr konzentriert. Dieses Vorgehen versuche ich am Nachmittag zu wiederholen. Die Mittagszeit und den Abend halte ich mir frei für die Familie. Steht ein besonderes Projekt an, ein Buch zum Beispiel, sitze ich gelegentlich nachts um eins am Schreibtisch. Und manchmal fahre ich einfach weg, begebe mich auf Klausur fernab des Alltags.

inperspective: Um den Flow zu finden, braucht es ein gutes Framework, vor allem Ruhe und Ausgeglichenheit, sagen Experten. Die Forschung betont immer wieder, wie gefährlich Lärmbelästigungen für die Gesundheit von Büroarbeitern ist.

Wolf Lotter: Ich bezweifle das mit der Ausgeglichenheit. Um den Sänger Johnny Rotten zu zitieren: "Anger is an energy", Zorn ist eine Energie. Ich kann mit Frust sehr gut schreiben. Wenn wir den Begriff Ruhe allein als akustischen Zustand definieren, ist physische Ruhe sehr wichtig, da stimme ich zu. Es darf nicht lärmen, bloß keine störende Musik, keine klingelnden Telefone. Es sollte nichts äußerlich ablenken. Das Problem der permanenten Störung wiederum wird massiv unterschätzt.

inperspective: Woran liegt das?

Wolf Lotter: Wir stecken in einem industriellen Arbeitszyklus und in einer industriellen Arbeitskultur fest. Deutschland ganz besonders. Wir sind an Fabriken gewöhnt, da ist es mal laut. Da ist das Gewerbe, wo es mal laut ist. Und da ist eben die Geistesarbeit, wo es dann immer noch laut ist.

inperspective: Hat der Trend zum Großraumbüro, der in den vergangenen Jahren auch renommierte Unternehmen erreichte, diese Gefahr genährt?

Wolf Lotter: Ich halte das Großraumbüro für einen totalen Rohrkrepierer. Verschiedenste Gewerke wollen einem erklären, dass viele soziale Kontakte gut für die Konzentrationsarbeit wären, und kommen dann mit diesem Konzept. Wir sollten vielmehr schauen, wie die Menschen früher Wissensarbeiten erledigt haben. Vor allem Mönche waren als Geistesarbeiter tätig. Sie haben in ihren Zellen gearbeitet, bei völliger Abgeschiedenheit im Kloster. Warum haben sie das getan? Weil unser Gehirn dieses Umfeld zum fokussierten Denken brauchte. Und unser Gehirn ist unser wichtigstes Produktionsmittel.

inperspective: Sie arbeiten alleine, Sie arbeiten Zuhause. Wie sieht Ihr Arbeitsplatz aus?

Wolf Lotter: Momentan arbeite ich, weil ich ein Buch schreibe, mit zwei Laptops. Ich schreibe hauptsächlich mit einem Chromebook, das “nur” ein Schreibprogramm und E-Mail beherrscht, das aber sehr gut. Mit dem Mac recherchiere ich. Dazu kommen ein Tablet und eine Bücherkiste, die ich mir für jedes Projekt zusammenstelle. Mein Handy bleibt während der konzentrierten Arbeit ausgeschaltet.

inperspective: Wie organisieren Sie Ihre Arbeit im Homeoffice?

Wolf Lotter: Mein Büro befindet sich im Souterrain, das schätze ich sehr. Es hat ein Fenster, es ist hell, ich kann aber nicht wirklich weit nach draußen gucken. Das ist nicht schlimm, ich brauche keinen Ausblick als Ablenkung. Im Obergeschoss gibt es noch einen kleinen Arbeitsplatz. Für spontane kleine Ideen, für die eilige Korrespondenz via E-Mail.

Ein Tool zur Kollaboration

 

inperspective: Ist das Büro daheim ihr Lieblingsarbeitsplatz?

Wolf Lotter: Das ist es eindeutig. Ich betrachte mein Büro als eine Werkbank. Alle meine Werkzeuge sind da, ich kann blind nach ihnen greifen, weiß, wo alles ist. Und das Projekt, an dem ich arbeite, ist im Schraubstock eingespannt. Daran muss ich konzentriert arbeiten. Aus der Mischung aus Erfahrung und meiner Neu- und Wissbegierde entsteht mein Werk. Ich glaube nicht, dass sich meine Arbeit von der eines Schreiners sonderlich unterscheidet. Nur bin ich handwerklich lange nicht so geschickt.

inperspective: Der New-Worker Christoph Magnussen hat in einem Interview gesagt, dass das Büro ein Tool der Kollaboration sei. So organisiert er auch sein Unternehmen. Das Office ist eine Möglichkeit für Meetings, für Gespräche, für Deepwork, aber es gibt keine Pflicht, es immer zu nutzen.

Wolf Lotter: Das finde ich klug, das finde ich erfolgversprechend. Es gibt Firmen, die ihre Arbeitszeit radikal heruntergefahren haben. Die haben verstanden, dass es nicht um Anwesenheit geht, sondern um Leistung und um Performance.

inperspective: Wie definieren Sie Performance?

Wolf Lotter: Die richtige Performance entsteht, wenn wir das machen, was wir am besten können, und das Richtige zur rechten Zeit tun. Leistung besteht nicht daraus, dass wir erfolgreich Arbeitssimulation betreiben. Es gibt unzählige Wissensarbeiter, die sich in ihrem Berufen langweilen, aber ellenlange Stundenlisten aufweisen. Gute Leistung lässt sich nicht durch eine Präsenzpflicht erreichen. Sie entsteht, wenn wir unser Bestes geben, von dort, wo es eben am besten geht.

inperspective: Wie haben das Internet und die Digitalisierung abseits von Kommunikationstools unsere Zusammenarbeit verändert?

Wolf Lotter: Mit dem Boom des Webs kamen die sozialen Netzwerke und unsere digitale Vernetzung. Erstaunlicherweise wuchs mit dieser Vernetzung die Angst derer, die nicht vernetzt sind. Das mittlere Management hat Sorge, dass es seine Schäfchen nicht mehr zählen kann. Im Verlagswesen erkenne ich bei Führungskräften die wachsende Unruhe vor Eigendynamiken, die sie nicht kontrollieren können. Und mit dem Interesse des mittleren Managements, das ordnen und führen will, kollidiert das grundsätzliche Wesen der Wissensarbeit. Der Kern von Knowledge Work besteht darin, dass ein Wissensarbeiter in seinem spezifischen Thema mehr weiß als der Chef.

inperspective: Welche Herausforderungen entstehen aus diesem Interessenkonflikt?

Wolf Lotter: Menschen, die von der aufwendigen Bürokratie, von der Verwaltung leben, haben kein Interesse daran, diese Schwerfälligkeiten abzubauen. Sie würden dann gegen ihre eigenen Motive handeln, sich mitunter überflüssig machen.

inperspective: Was wäre eine Lösung für die von Ihnen angesprochenen Probleme?

Wolf Lotter: Wir müssen lernen, mit und in Netzwerken zu arbeiten. Wir können in diesen Networks zurzeit noch nicht kooperieren. Wir sind es gewohnt, dass wir statisch eine Arbeit machen, möglichst ein Leben lang. Netzwerkökonomie funktioniert anders, projektmäßig, von Zeit zu Zeit. Die technischen Gegebenheiten dafür haben wir. Doch müssen wir kontextkompetenter werden.

Es verlangt mehr Selbständigkeit

 

inperspective: Was bedeutet “Kontextkompetenz” und wie können Büroarbeiter diese erlangen?

Wolf Lotter: Wir müssen in der Lage sein, anderen zu erklären, was wir tun. Es geht um die individuelle Leistungsbeschreibung: Was können wir selbst anbieten, was brauchen wir? Was ist der Deal, unter dem wir zusammenarbeiten? Dieses Nachdenken geht zusehends verloren, weil sich Experten tiefer eingraben und nicht mehr darüber reden, was sie tun. In Organisationen wird immer wieder gesagt, dass wir Wissen teilen müssen. Der Satz ist sehr richtig, sehr wahr. Allerdings funktioniert das nur, wenn wir unser Wissen für andere verständlich machen.

inperspective: Ein weiteres Problem, was ich sehe: Manche Büroarbeiter umklammern das Bewährte, wollen, dass alles bleibt, wie es war.

Wolf Lotter: Die Zeiten werden unsicherer, und besonders junge Menschen schauen immer häufiger zurück. Das ist ein gravierendes Problem. Wir können die Zeit nicht anhalten, sie nicht zurückdrehen, wir können sie nur für uns gestalten. Oder wie es der große US-amerikanische Historiker Timothy Snyder sagt: Wir müssen unsere eigenen Geschichten schreiben. Er hat auch treffend analysiert, dass wir uns berufliche Sicherheit und Demokratie aktiv erarbeiten müssen. Diese Errungenschaften werden uns von niemandem mehr geliehen. Um sie zu erlangen, verlangt es die Selbstständigkeit der Menschen. Die geht aber besonders in Deutschland verloren.

inperspective: Wo liegen die Ursachen für dieses Problem?

Wolf Lotter: Wir erziehen in unserer Gesellschaft nicht zum selbstbewussten Selbstständigsein, sondern zu einem Kollektiv, zu einem Mitmachen. Dabei braucht es Selbstständigkeit und Selbstvertrauen, damit wir uns verändern und Wandel gestalten können.

inperspective: Können wir Veränderung lernen?

Wolf Lotter: Wir müssen regelmäßig hinterfragen, was unser Standpunkt ist, und diesen anzweifeln und prüfen. Sind die Dinge immer noch so, wie ich sie glaube, beurteilen zu können? "Der Zweifel ist der Weisheit Anfang", hat der große französische Philosoph René Descartes, ein Vater der Aufklärung, sehr treffend formuliert. Wir müssen üben, konstruktiv an uns zu zweifeln.

inperspective: Wie häufig hadern Sie?

Wolf Lotter: Ich zweifle oft, ja täglich. An meiner Arbeit, an meinen Partnern, an der Politik, an der Gesellschaft. Ich zweifle unerlässlich. Das ist teilweise extrem anstrengend. Das Problem am Nichtzweifeln wäre, dass es meine Selbstachtung zerstören würde.

Raus aus der Blase

 

inperspective: Viele zweifeln zurzeit nicht nur an ihrer Zukunft, sondern auch am Fortbestand unserer Büros. Wird das Office, so wie wir es kennen, bald out sein, also verschwinden?

Wolf Lotter: Das glaube ich auf jeden Fall. Der Vorgang beschleunigt sich momentan durch die Krise. Viele Berufe, die klassische Angestellte in Büros ausüben, werden verschwinden, weil Automaten Tätigkeiten wie das Verwalten und Organisieren übernehmen, es schneller und besser als der Mensch können werden. Die Automation ist ungebrochen auf dem Fortschritt. Und das ist gut. Sie hat uns viel Gutes gebracht, und wird uns noch viel Gutes bringen. Nur konfrontiert sie uns mit unserem Ich, mit unserer Arbeit, mit dem, was wir tagtäglich tun. Hier ein Formular, da ein Formular, rein ins Meeting, raus ins Meeting, und wieder von vorne. Wir können davon ausgehen, dass Routinearbeiten im Büro in den nächsten Jahren um 50 Prozent ausfallen. Diese Entwicklung hätte es auch ohne Corona gegeben.

inperspective: Brauchen Chefs Büros mehr denn je, weil sie die Bindung zu Mitarbeitern erhalten und Persönlichkeiten und Talente erkennen müssen?

Wolf Lotter: Das würde ich so unterschreiben. Es geht um soziale Checks: Wer grüßt wen? Wer sitzt wo? Da müssen wir immer wieder neu sortieren. Wir werden mit mehr Autonomie und selbstständiger für Organisationen arbeiten. Was bleibt, was wichtig ist: Dass wir uns von Zeit zu Zeit sehen, das aber nicht auf Routinekonferenzen, sondern eher auf Veranstaltungen. Da können wir uns vor und nach den Meetings oder Vorträgen gegenseitig überraschen.

inperspective: Was wäre Ihre Vision für eine bessere Form der Zusammenarbeit?

Wolf Lotter: Es wird hoffentlich rausgehen aus der Bubble. Das heißt auch: raus aus den klassischen Organisationen, wie wir sie derzeit kennen. Ich habe ein gutes Beispiel: Siezen oder Duzen, das ist momentan ein Thema in meinem Umfeld. Social-Media-Beauftragte sagen, dass wir duzen sollen, das würde den meisten Menschen gefallen, das wäre gut, dafür gäbe es Studien. Wenn ich nach diesen Belegen frage, dann kommt nichts mehr, wahrscheinlich, weil sie nicht existieren. Der Wille zum "Du" ist vermutlich aus internen Rückfragen entstanden, der eine sagt zum anderen, dass das passt. So funktioniert es in Unternehmen: Man bestätigt sich ständig selbst zurück. Das System rückkoppelt nur innerhalb des Systems. Das ist Eifer zur Dummheit. Deshalb haben wir so wenig Innovation, so wenig Realitätssinn, deshalb gibt es so viele Identitäten. Weil wir uns abschotten, denken wir, dass die Welt überall so funktioniert wie in unserer Blase. Das ist aber nicht zielführend, das macht uns nicht klüger, nicht besser. Einflüsse von außen sind wahnsinnig wichtig. Auch in den Büros.

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