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Meer Arbeit

Direkt am Meer: Das Coworking-Büro project bay schmiegt sich an die Ostsee.

Urlaub, Büro und Übernachtung an einem Ort. Die Jungunternehmer Hannes Trettin und Toni Gurski eröffnen in der Provinz ihre "project bay". Das Konzept soll mehr bieten als Raum zur Workation und Kollaboration. Es geht auch um die Zukunft der Heimatregion. Eine Konzeptvorstellung.

von Hannes Hilbrecht

"Da arbeiten, wo andere Urlaub machen", der Slogan ist beliebt bei Menschen in Küstennähe. Hannes Trettin und Toni Gurski haben den Satz besonders ernst genommen. In Lietzow, einem pittoresken Nest auf der Insel Rügen, eröffneten sie einen speziellen Coworking Space direkt an der Ostsee. Dort können die Mieter nicht nur arbeiten, kollaborieren und netzwerken. Sie können auch direkt neben dem Büro übernachten. Und mittags auf dem SUP paddeln, Kajak fahren, den gebräunten Bauch in die Wellen stürzen. Oder abends direkt mit Bierknolle in der Hand das Meer anhimmeln. "Workation" heißt das neue Zauberwort – Urlaub und Arbeit im Einklang. "Wir sind vom Konzept sehr überzeugt. Sonst hätten wir es nicht umgesetzt. Wir haben mit viel Menschenverstand abgewogen", sagt Hannes Trettin.

Toni und Hannes, beide Anfang 30, waren lange für renommierte Unternehmen tätig. Dann haben sie sich selbstständig gemacht. Der erste Schritt war die Entwicklung einer App für mehr Nachhaltigkeit in der Mode. "Snazz", eine Unternehmung mit Potenzial. Nun das nächste Vorhaben "project bay", der erste Workation-Place an deutschen Stränden. Doch was steckt hinter dem Konzept?

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Der Standort: Ein schönes Ungetüm

"Wir suchten eher ein romantisches Objekt, eingeschossig, Fachwerk mit Reetdach, bestenfalls direkt am Wasser, das wäre perfekt gewesen", sagt Toni Gurski. Stattdessen ist es ein gläsernes Ungetüm geworden. Fünf Stockwerke hoch, viel Beton, dazu ein riesiger Keller – aber mit Wasser- und Stegzugang.

Ein Berliner Immobilienunternehmer erwarb vor halben Ewigkeiten den Komplex aus der Insolvenzmasse eines gescheiterten Projekts. Jahrelang suchte der Investor nach innovativen Konzepten, um den Bau mit den markanten grünen Metallstreben wieder mit neuen Ideen und Leben zu füllen. Dann traf er auf Hannes und Toni. Die übernahmen ein Stockwerk und bauten die Räume eigenhändig um. Büroflächen, renovierte Schlafzimmer, Küche, eben alles, was es zum "Workationing" braucht.

Der große Vorteil der Gemeinde Lietzow? Sie ist infrastrukturell bestens angebunden. Bundesstraße, Zugverbindung, nur etwa 30 Minuten sind Stralsund und das Festland entfernt. Und am allerwichtigsten für den Space: Die Daten rauschen rasch aus den Glasfaserkabeln.

Hannes Trettin und Toni Gurski wollen in der Heimat etwas aufbauen.

Das Vorbild: Das Coconat-Projekt


Als Pioniere der Workation gilt das "Coconat". Im Örtchen Klein Glien, verborgen in der brandenburgischen Mittelmark, hat sich das deutsche Pionierprojekt der Workation auf einem alten Gutshof eingenistet. Es gibt einen Badesee, Wohnräume, Werkstätten, sogar einen Pizzaofen – Coworking und Coliving mitten in der Pampa. Das Objekt wird gut frequentiert, besonders Unternehmern und Selbstständige aus Berlin buchen regelmäßig Raum für einen Retreat, einen kurzen Rückzug aus dem Alltag. Im Mittelpunkt: Das "Inspirierenlassen" von der Natur, den Kopf frei kriegen für komplizierte Projekte, das Spinnen von neuen Netzwerken. Hannes und Toni sehen im "Coconat" keine Konkurrenz. Es ist eher ein Vorbild. "So etwas Ähnliches haben wir hier auf Rügen vor. Das Coconat ist ein tolles Vorbildprojekt. Was uns unterscheidet: Wir haben nicht nur einen See, sondern das Meer mit Wellenrauschen. Auch wollen wir die Leute am liebsten nicht nur für einen kurzen Retreat anlocken, sondern dauerhaft für das Lebensgefühl Rügen begeistern", sagt Toni.

Zielgruppe: Vom Studenten bis zum CEO


Der deutsche Vertriebsleiter eines weltweit aktiven Reifenherstellers mietete sich während des Familienurlaubs ein. Ebenso ein britischer Banker, der vor der einquetschenden Enge Londons und der Corona-Pandemie flüchtete. Und direkt im Nachbarbüro: Studentinnen und Studenten, die an der Masterarbeit schrauben. Die Zielgruppe vom project bay ist sehr divers. Das gehöre zur Strategie, wie Hannes erklärt: "Wir wollen möglichst unterschiedlichen Menschen den passenden Raum zum Arbeiten anbieten. Deshalb setzen wir auch auf individuelle Nutzungsmöglichkeiten. Ob Tagespass, Zehnerkarte oder monatliches Abo – die Bedürfnisse, wann, wo und wie ein Büro benötigt wird, variieren eben sehr."

Und tatsächlich sprechen die beiden nicht nur Reisende an. Langfristig soll der Space neue Unternehmen nach Rügen locken. Bislang ist die Stadt eine Insel der Pendler, montags früh schwärmen viele Insulaner wie die Bienen auf Nektarsuche aus, verteilen sich in ganz Deutschland. Nicht nur Handwerker brechen zu Montagen auf, sondern auch Bürokräfte sind in der Woche auf Achse. Hannes und Toni spekulieren, dass durch die alternativlose Digitalisierung es künftig wahrscheinlicher wird, das Unternehmen ihren Vielfahrern lokale Alternativen anbieten. Zum Beispiel project bay.

Die Erfolge: Mit Worten und Taten

Abends brannte in Lietzows wuchtigsten Gebäude lange Licht, manchmal die halbe Nacht. Was banal klingt, hat Hannes und Toni Respekt in der Region verschafft. Die beiden Jungs erzählen nicht nur, sie machen auch selbst, mit eigenen Händen, Bohrmaschine, Hammer und Pinsel, mit Teamwork. “Die Menschen im ländlichen Raum sind manchmal skeptisch. Besonders, wenn Großstädter mit neuen Ideen um die Ecke kommen. Wir wollten sie von Anfang an mit Haltung und Fleiß überzeugen”, sagt Hannes.

Deshalb sind beide früh auf Überzeugungstour gegangen. Gespräche mit der Politik, Projektvorstellung im Gemeinderat und Nachtschicht an Nachtschicht, damit trotz Corona-Wirren die Eröffnung pünktlich gelingt. Versprechen halten, Taten statt Worte. Dieser Einsatz fruchtet. “Die Menschen geben uns positives Feedback. Sie glauben uns, dass wir etwas für die Region entwickeln wollen. Sie unterstützen uns. Das ist ein großer Erfolg”, sagt Toni.

Fast noch wichtiger: Die Resonanz der Mieter und Gäste stimmt. Die Büros und Zimmer sind gut besucht. Und die Leute, die schon da waren, wollen bald wiederkommen.

Die Mission: Für die Heimat


In Großstädten boomen bereits moderne Kollaborationskonzepte. Es gibt innovative Büros, Kommunikationslabore, Coworking Spaces aller Couleur. Nur befinden sie sich vor allem in den Städten, nicht in der Provinz. Doch auch dort haben Menschen das Bedürfnis nach flexibel nutzbaren Büroräumen. Die Wochen und Monate im Homeoffice haben die Sehnsucht nach Kollaboration und nach ein wenig Abstand von der Familie wieder genährt.

Hannes und Toni wollen Verantwortung übernehmen und Vorreiter sein. "Wir möchten im ländlichen Raum Alternativen schaffen. Damit jeder Mensch so arbeiten kann, wie er arbeiten möchte. Leben und Job können so noch besser zusammenfinden", sagt Toni.

Bisher war Mecklenburg-Vorpommern ein Land mit Jugendschwund. Viele junge Leute zog es in den Süden und Westen. Hannes und Toni, die ihre Heimat Rügen ebenfalls zwischendurch für die eigene berufliche Laufbahn verlassen hatten, hoffen, dass schon bald auch andere wiederkommen. Vielleicht wegen ihres Workation-Projekts.

Die weiteren Aussichten: Ein Showroom für Arbeit am Meer


Während des Corona-Lockdowns, sagt Toni, sei es schon mal kribbelig gewesen. Als Hotel-Hostel-Büro-Kombination hätten auch sie unter den flächendeckenden Schließungen gelitten. Weitergemacht haben sie trotzdem, Turbulenzen härten ab. Der Optimismus ist geblieben. Sie begreifen die Krise mittlerweile als große Chance. "Die meisten Unternehmen haben erkannt, dass Arbeit in vielen Modellen funktionieren kann. Viele Organisationen werden sich für neue Konzepte öffnen", sagt Hannes.

Neue Ideen gibt es bereits, manche stehen kurz vor der Umsetzung. Die Gründer möchten eine Programmierschule auf der Insel ansiedeln, die Talente erkennt und weiterbildet – unabhängig von Schul- und Studienabschlüssen. Und sie möchten auch beim Bürodesign etwas machen. Zum Beispiel einen Showroom entwerfen, der zeigt, wie  Arbeit und die Zeit direkt am Meer miteinander harmonieren können.

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