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Schlafen, wo andere arbeiten

In Offices ist oft sehr viel Platz, der außerhalb der Arbeitszeit vergeudet wird.

Ist es nicht fahrlässig, dass in Städten überall Wohnraum fehlt und die meisten Büros trotzdem halbtags leerstehen? Könnten Multitasking-Büros die Obdachnot lindern? Eine verwegene Vision. 

von Hannes Hilbrecht

In einem Friseursalon bin ich Weltmeister geworden.

Es ist der 14. Juli 2014, eine schwülheiße Nacht in Hamburg. Deutschland gewinnt spät abends gegen Argentinien mit 1:0. Bier- und Schampus-Fontänen tränken die Trottoirs der Stadt. Abstandsregeln existieren nicht. Es ist eine wilde Party, die ich im Kamm in erlebe. Kiez und Rotlicht sind nicht weit weg.

Ich habe ein Bier in der Flosse und fläze mich in einen Friseursessel. Meine Füße stelle ich auf dem Tritt ab, die Sneaker lass ich zu Shakira shaken. Weltmeister wird man vielleicht nur einmal im Leben.

Das Kamm in ist ein besonderer Ort. Selbst dann, wenn man nicht Weltmeister wird. Tagsüber beheimatet das Gründerzeithaus in Hamburg-Mitte ein Friseurgeschäft, abends eine Kneipe mit Livemusik im Keller und einer Bar hinterm Kundenempfang. Keine Sekunde am Tag bleiben die Räume ungenutzt. Sind morgens die letzten Bierdeckel aus den Ritzen der Fauteuils gepult und die Zigarettenstummel vom Absatz gefegt, summen wieder die Haarschneidemaschinen. Was für ein geniales Konzept. Damals wie heute.

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Das Land der Büros

Deutschland ist das Land der Dichter und Denker und das der Büros. Im Jahr 2015 existierten hierzulande laut Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft 327.000 Büro- und Verwaltungsgebäude. Die Nutzungsfläche aller Objekte beträgt 382.400.000 Millionen Quadratmeter.

382,4 Quadratkilometer. Würde man jeden Meter Büro zusammenleimen, käme eine Fläche so groß wie München bei raus. Eine wahnsinnige Zahl.

In den allermeisten Büros pulsiert, und das ist großzügig geschätzt, etwa 14 Stunden am Tag das Leben. Von 6 bis 20 Uhr. Dann ist fast überall das Licht aus, selbst die Kaffeevollautomaten haben das Röcheln eingestellt. Zuletzt ziehen die Putzkolonnen als Nachtschwärmende durch die Flure.

Platz ist in Städten Mangelware

Gäbe es ein Überangebot an Platz, wäre es nicht allzu schlimm, dass in Deutschlands Metropolen nachts Geisterstädte existieren. Doch in vielen urbanen Regionen, in denen Büro-Monolithen aus Glas und Beton wachsen, ist Raum zu einer Mangelware verkommen. Um die 20 Euro kostet in München der Quadratmeter in einer Mietwohnung. In der Stadt finden Krankenpfleger:innen und Busfahrer:innen nur noch am Stadtrand oder in ungemütlichen Milieus bezahlbaren Wohnraum. Student:innen haben schon zu Semesterbeginn campen müssen. Die Platznot in der Stadt geht so weit, dass gewiefte Mieter:innen ihre Balkone als Wohnraum untervermieten wollten. Irgendwie muss das Geld reinkommen.

Aber können wir es uns wirklich leisten, Raum zu verschwenden, besonders dort, wo er dringend benötigt wird? Könnten wir – über Multitasking – aus zeitweise ungenutzten Orten etwas Sinnvolles machen? Schauen wir in ein Land, in dem es schon immer ziemlich eng war: Japan.

In der Mainmetropole Frankfurt gibt es sehr viel Bürofläche und zu wenig Wohnraum.

Sardinenbüchsen und Kapselhotels

In Osaka leben die Menschen wie in einer Sardinenbüchse. Über 12.000 Einwohner:innen quetschen sich in der Stadt auf einem Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Berlin sind es nur etwas über 4.000. Eine Zweiraumwohnung unter 40 Quadratmeter kostet in Osaka im Schnitt über 900 Euro. Die Menschen in Japan mussten lernen, mit wenig Platz sorgsam umzugehen. Auch deshalb wurde eine skurril anmutende, aber sehr effektive Erfindung geboren: das Kapselhotel.

Wer den Schlafkabinen schmeicheln möchte, könnte behaupten, dass die Unterkünfte einer Bienenwabe ähneln. Wer makaberer denkt, könnte sich an Kühlzellen aus den Krankenhauskatakomben erinnern.

In den japanischen Kapselhotels muss aber kein Gast einen Ausweis am Zeh führen. Und die röhrenförmigen Herbergen können – zumindest zeitweise – ein Platzproblem in den Innenstädten lösen. Denn normale Hotels sind aufgrund der beengten Lage in japanischen Großstädten noch kostspieliger als in anderen Metropolen. In einem Land, in dem Dienstreisen weit verbreitet sind, ist der Bedarf an unprätentiösen wie günstigen Schlafplätzen hoch. Idealerweise befinden sich diese in Zentrums- oder Bahnhofsnähe.

Schlafkabinen für das Büro?

In Kapselhotels entstehen bis zu 20 Schlafplätze auf der Fläche eines herkömmlichen Pensionszimmers. Die Kabinen sind schalldicht isoliert, sie besitzen Fernsehgeräte und Klimaanlagen. Die Zugangstür, meist ein Fenster, nur etwas größer als ein Bullauge, können die Gäste blickdicht verriegeln. Sanitäre Einrichtungen, Snackautomaten und Restaurants befinden sich in Fluren oder auf anderen Etagen. Manche Kapselhotels besitzen sogar hauseigene Onsens. Das sind traditionelle japanische Bäder mit Wassergrotten oder Waschzellen.

Wären Schlafkabinen – in geräumig und muckelig – nicht auch eine Alternative für Büroimmobilien, in denen Flächen zuletzt abkömmlich geworden sind? Wären Schlaf- und Wohnboxen für interne Mitarbeiter:innen aus näheren und ferneren Peripherien, die nur zeitweise im Office sind, nicht eine Stress sparende Lösung? Wären sie geeignet für Kolleg:innen, die eine Auszeit von zu Hause benötigen? Oder für Praktikant:innen, frisch von der Uni, die sich dann keinen teuren Wohnraum für eine befristete Zeit suchen müssten?

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In Japan leben die Menschen eng zusammen. Das zwingt sie in die Kreativität.

Befremdliche und charmante Alternative

Kapselhotels erscheinen zugleich wie eine befremdliche und charmante Alternative für eine nachhaltigere Nutzung von Büroräumen. Und in manchen Arbeitswelten gibt es bereits mobile Schlafplätze.

Das Londoner Unternehmen Podtime verkauft seit Jahren flexible Schlafröhren an Geschäftskunden. Für die Käufer:innen der Kapseln sind die Boxen mehr als ein Benefit für die Mitarbeiter:innen. Sie investieren genauso aus egoistischen Gründen.

Es gilt als erwiesen, dass bereits Powernaps von 20 bis 30 Minuten die Leistungsfähigkeit von Büroangestellten erhöhen. Die intensiveren Ruhepausen sollen ebenso dabei helfen, negativen Stress zu vermeiden. In den Podtime-Geräten können Mitarbeitende – geschützt von missgünstigen Blicken – erholsamen Mittagsschlaf tanken und danach mit wachem Kopf Excel-Tabellen durchkämmen.

Das Iglu-Office

Flexible Schlafplätze können aber nicht nur innerhalb von Büroimmobilien entstehen. Sondern auch draußen. Zum Beispiel auf Dächern oder dem Betriebsgelände.

Die Idee dazu kommt aus einer Gegend, die das krasse Gegenteil zu Osaka verkörpert. Denn in Leie, einem estnischen Dorf in der Region Viljandi Maakond, leben nur 173 Menschen. Die Bevölkerungsdichte beträgt im Siedlungsgebiet 16 Einwohner:innen pro Quadratkilometer. Platz ist in Estland keine Mangelware.

Die Firma Iglucraft produziert in diesem Kaff Fertighäuser. Die haben die runde Form von Iglus, sind aber nicht aus gefrästen Eisblöcken geformt. Stattdessen verbaut die Firma robuste Holzschindeln aus Lärchenholz. Bis zu 80 Jahre kann das Material auch an unwirtlichen Orten überstehen.

Wohnungslos in Seattle – bis jetzt

Iglucraft baut Saunen, kleine Wohnhäuser und mobile Office-Hütten. Diese könnten Unternehmen, wenn es die Statik der Immobilien zulässt, sogar auf Dachterrassen aufstellen. Klingt verwegen, ist rechtlich schwierig, aber nicht unmöglich.

In Seattle, USA, haben Architekt:innen mithilfe eines ähnlichen Konzeptes punktuell die Wohnungsnot in der Stadt lindern können. In sogenannten Block Homes finden Obdachlose oder Geringverdienende ein neues Zuhause. Die einfachen, aber robusten Hütten werden in den Vorgärten oder Hinterhöfen von Eigenheimbesitzer:innen oder Unternehmen aufgestellt. Das Feedback zum Projekt ist sensationell. Und Flächen, die zuvor kurz- und langfristig brachlagen, sind wieder dauerhaft mit Leben gefüllt.

Iglus aus Schindelholz. In Estland wurde ein Wohn- und Arbeitstraum geboren.