Entstehen weniger Ideen, wenn Menschen nicht mehr zum gemeinsamen Denken zusammentreffen? Das glaubt der renommierte Unternehmensberater Nick Sohnemann. Ein Gespräch über Settings, in denen Innovationen gedeihen.
von Hannes Hilbrecht
inperspective: Nick, du bist seit mehr als zehn Jahren mit deiner Agentur FUTURE CANDY aktiv. Du zählst zu den renommiertesten Innovationsberatern im Land. An welchen Orten kommst du als »Vorausdenker« auf gute Gedanken?
Nick Sohnemann: Es gibt für Ideen nicht den einen Raum, nicht die eine Stellschraube, an der man drehen kann. Innovation ist immer harte Arbeit. Es braucht Willen, die geistige Bereitschaft, Cleverness. Genauso relevant sind genügend zeitliche und mentale Ressourcen.
inperspective: Räume sind also unbedeutend?
Nick: Nein. Sie sind bedeutsam, damit echte Begegnungen entstehen können.
inperspective: Was sind in Zeiten der Remote-Arbeit »echte Begegnungen«?
Nick: Ich meine persönliche Meetings. Mit der Körpersprache der anderen, mit einem idealerweise hierarchiefreien Austausch untereinander. Dieses Zusammenkommen unterstützt das Denken. Digitale Optionen wie Teams, Zoom und Google Meet können das nur teilweise abdecken.
inperspective: Was muss ein Raum für innovatives Denken bieten?
Nick: Mit einem Stift an einem Whiteboard stehen, gemeinsam diskutieren, abwägen – für mich ist dieses Setting noch immer sehr kraftvoll. Wenn das Ambiente inspirierend gestaltet ist – mit viel Helligkeit – entstehen die kraftvollsten Momente innerhalb eines Innovationsprozesses.
inperspective: Nun lebten wir in einer Zeit, in der Zusammenkünfte über mehr als zwei Jahre kaum denkbar waren. Welches digitale Setting könnte ähnlich starke Situationen kreieren?
Nick: Das Metaverse ist spannend – und sollte von Unternehmen unbedingt getestet werden. Wenn sich Avatare in digitalen Umgebungen treffen, entsteht eine spannende und ergiebige Kommunikation. Ich habe dort bislang überraschende und positive Momente erlebt.
inperspective: Über das Metaverse wird eifrig diskutiert. Es gibt auch kritische Töne. Ist die Nutzung so einfach?
Nick: Ich persönlich störe mich eher an Kleinigkeiten. Der Akku der Virtual-Reality-Brillen reicht meist nur für 1,5 bis 2 Stunden. Abgesehen davon liegen die Geräte irgendwann schwer auf der Nase. Sind die Brillen per Kabel am Strom angeschlossen, ist der Bewegungsradius eingeschränkt. Einen Acht-Stunden-Workshop schaffe ich noch nicht im Metaverse.
inperspective: Agenturgründer Mirko Kaminski schilderte im Interview mit inperspective snacks, dass sein Kreativteam über mehrere Stunden via Videocall verbunden war. Auch ohne Gesprächsbedarf. Wie bewertest du diesen Ansatz?
Nick: Auch wir hatten unsere »Constant Calls«. Sie sind ein probates Mittel. Genauso wie viele kleine Meetings, die man schlau über den Tag verteilt.
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inperspective: Du klingst nicht hundertprozentig überzeugt. Was waren die Probleme mit dem Homeoffice?
Nick: Zum Beispiel die unterschiedlichen familiären Kontexte. Wer Kinder zu Hause betreuen musste, war anders greifbar als die Singles. Andererseits waren diese wiederum tagelang isoliert. Durch das Homeoffice wurde unsere Zusammenarbeit durch eine Ebene ergänzt, die für uns vorher kaum relevant war. Das verlangte von mir als Chef angepasste Kommunikationsmuster.
inperspective: Was hat dir in den Zeiten der Separation noch gefehlt?
Nick: Die für Innovation so wichtigen Impulse. Das Mitlauschen von Gesprächen oder die plötzlichen kleinen Entdeckungen, die durch das Zusammenkommen im Büro entstehen. Diese Situationen gab es remote selten in der geschätzten Form. Auch das oftmals mitentscheidende erste Feedback zu einer Idee bekam ich zeitverzögerter. Befindet man sich in räumlicher Nähe, sind die Wege kurz. In Remote-Modellen muss erst mal ein Anruf getätigt und am anderen Ende angenommen werden.
inperspective: Das Homeoffice ist bei Wissensarbeitenden trotzdem beliebt. Deine Meinung?
Nick: Bei uns kommen die Kolleg:innen häufig und gerne ins Büro. Am Ende ist es eine Frage des genauen Jobprofils und der Wünsche der jeweiligen Kund:innen. Generell glaube ich, dass wir im Homeoffice unproduktiver geworden sind. Zumindest was das Thema Innovation angeht. Es entstanden in den Lockdowns weniger Ideen und damit weniger Wert. Profitable Unternehmen können das überstehen, andere haben Einbußen gespürt. Meine These: In einer hybriden Arbeitswelt können wir ohne regelmäßige und echte Zusammenkünfte keine Innovationen konzipieren.
inperspective: Produktivität ist ein spannendes Stichwort. Da gibt es ganz große Ansätze, aber auch die kleinen, etwas bizarr klingenden Ideen. Zum Beispiel: Wie Gerüche die Kreativität steigern können. Prof. Johannes Frasnelli empfiehlt Minze.
Nick: Ich halte den Grundgedanken für absolut nachvollziehbar. In Shopping Malls erleben wir regelmäßig, wie Gerüche psychologisch wirken und ein gewisses Ambiente erzeugen. Wir fühlen uns beruhigt, die Kauflust steigt. Das Prinzip lässt sich bestimmt auf Büros übertragen. Aber am Ende ist das Thema nur ein kleines Detail. Wir haben viel größere Probleme.
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inperspective: Die da wären?
Nick: Sitze ich in Hamburg in der S-Bahn, sehe ich überall Stellenanzeigen. In beinahe jedem Podcast mit dem Fokus auf Arbeit geht es um den Fachkräftemangel. Woran das liegt? Deutschland hat das Automatisieren vergessen. In manchen Unternehmen ist die größte Form der Digitalisierung – provokant formuliert – die Exceltabelle. Dabei gibt es geniale Ansätze für unterschiedlichste Arten der Prozessoptimierung. Doch es fehlt die Begeisterung für Lösungen. Wir müssen krasser werden.
inperspective: Woran liegt das?
Nick: Am schlechten Einwand-Management in Deutschland. Am Rand stehen zu oft Leute, die sagen, was nicht geht. Sie wehren sich gegen eine Veränderung und argumentieren sie nieder. Obwohl das Ziel sinnhaft ist. Wir brauchen mehr Menschen, die für etwas arbeiten und begeisterungsfähig sind.
inperspective: Ein beliebtes Ausschlusskriterium ist der Satz »Das hat noch nie jemand gemacht«. Positive Cases müssen an diesem Punkt doch überzeugend wirken.
Nick: Es gibt atemberaubende Fallbeispiele. Ein produzierendes Unternehmen sammelt über die Filteranlagen so viel Feinstaub ein, dass es daraus Kunststoff für Kugelschreiberhüllen produzieren kann. Dieser wird an die Hersteller der Schreibgeräte verkauft. Genauso genial: Fischer, die in Frankreich keine Fische mehr fangen, sondern zurückgelassene Netze. Aus diesen kann eine Organisation hochwertige Kunststoffe gewinnen.
Wenn ich aber Unternehmen diese Erfolgsgeschichten erzähle, kommt manchmal folgender Satz: »Das ist zwar schön, funktioniert bei uns aber nicht.« Diese Einwände lauern überall. Und wenn ich eines gelernt hab, dann, dass ich das Missionieren vermeiden möchte. Ist keine Grundbereitschaft zum innovativen Denken, zum Neu- und Andersmachen da, gärt schnell Frust.
inperspective: Wir sind ein bisschen abgeschweift. Zurück zum ursprünglichen Ansatz: Menschen müssen zusammenkommen, damit Innovationen entstehen können. Wie überzeugst du deine Mitarbeitenden vom Büro?
Nick: Wir haben mit der Zeit ein sehr familiäres Gefühl entwickelt. Wir essen mittags fast immer zusammen. Ich muss diesen Austausch nicht mal über bezahlte Angebote fördern, er entsteht, weil alle ihn sich wünschen. Außerdem liegt unser Büro zentral, das verkürzt Arbeitswege. Immer zu beachten: das schnelle Internet. Auch das fehlt manchen Mitarbeitenden zu Hause. Es gibt einige unscheinbare, aber relevante Bausteine.
inperspective: Bist du gegen das Homeoffice?
Nick: Nein, wer sich damit gut fühlt, soll das machen. Ich glaube, dass man im Büro mental mehr da ist. Zumindest wenn es um gemeinsame Denkprozesse geht.
inperspective: Abseits von der Innovationskultur: Was ziehst du aus der Präsenzarbeit?
Nick: Mir ist Austausch, konstantes Feedback über Worte oder Gestik und Mimik extrem wichtig. Besonders bei jungen Mitarbeitenden, also jung im Sinne von »frisch in der Firma« lege ich Wert darauf. Ich möchte die Neuen einbeziehen. Ihnen zeigen, dass mir alle Meinungen etwas bedeuten.
inperspective: Was ist der heilige Ort im Büro von FUTURE CANDY?
Nick: Wir arbeiten in einem alten Fabrikgebäude aus den 60er Jahren. Im Dachgeschoss nutzen wir einen großen Raum. Früher wurde dieser bestimmt als Lagerhalle genutzt. Dort sind ein paar Wände drin, unter anderem für separierte Meeting-Zonen. Entscheidend ist aber die große Freifläche. Unser Herzstück.
inperspective: Was steht dort?
Nick: Ein großer Schreibtisch, an dem alle sitzen. Wo es keine oder nur flache Hierarchien gibt.
inperspective: So was wie der Superdesk, dem mit 335 Metern längsten Schreibtisch der Welt?
Nick: Nein, nicht ansatzweise so riesig. Unser Tisch ist etwa zehn Meter lang. An ihm gibt es 16 Arbeitsplätze.
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inperspective: Sitzt du auch dort?
Nick: Manchmal. Ich habe auch ein Chefbüro. Der Austausch meiner Kolleg:innen ist ein anderer, wenn ich als Chef nicht permanent am Tisch sitze.
inperspective: Ist der Raum perfekt, wie er ist, oder möchtest du ihn weiterentwickeln, etwas neu machen?
Nick: Wir denken darüber nach, die Situation etwas aufzubrechen. Dass wir dann in Gruppen zusammensitzen, die gemeinsam an konkreten Produkten arbeiten. In kleinen Teams entstehen rasch gute Dynamiken.
inperspective: Zum Abschluss, Nick, weil du es mit der Expertise sicher treffender erahnen kannst als andere: Wie werden sich Arbeitsorte in fünf Jahren verändern?
Nick: Ich sehe einige Herausforderungen. Zunächst inhaltlich: Wir müssen an einer völlig neuen Welt bauen. Menschen, die früher im BWL-Studium die lineare Ökonomie gelernt haben, die sogenannte »Wegwerfwirtschaft«, müssen fortan in Kreisläufen denken. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass alte Gewissheiten brüchiger werden. Dazu kommt: New Work ermöglicht Freiheit. Vertrauensarbeitszeit. Vertrauensorte. Die Loslösung von Hierarchien. Doch wie geht Führung damit um, wenn es weniger Zusammentreffen gibt? Die alten Artefakte der Führung – Chef:innenbüro oder Chef:innenparkplatz – werden unsichtbar.
Für diese Herausforderungen braucht es am Ende Räume, die Inspiration und Kommunikation ermöglichen. Beide Aspekte sind bei der Lösung beschriebener Aufgaben wegweisend. Ob wir uns in Präsenz im Büro oder im Metaverse begegnen? Das hängt davon ab, wie schnell sich die Technologien entwickeln – und wie offen wir Menschen für sie sind.