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Eine Ode auf die Spinde

Martin Sonnleitner ist Autor, Journalist und "Schließfachhistoriker".

Schließfächer erfinden sich neu: vom muffigen Einzelzellen-Labyrinth hin zum hippen Büromöbel. Der Weg in die Zukunft beginnt mit einem Relikt der Vergangenheit. Eine intellektuelle Wertschätzung eines unterschätzten und bald boomenden Büromöbels.

von Martin Sonnleitner

Der Spind ist ein Anachronismus: Hölzern oder blechern, rostig, ein wenig ranzig und vergilbt steht er für eine Zeit, in der es noch die BRD und die DDR gab. Seichte Zeitschriften Auflage machten und Werkstattkalender in diversen Spinden der Republik hingen. Neben miefigen Arbeitsschuhen, trockenen Butterstullen und der ach so wichtigen Thermoskanne Kaffee. Tempi passati. Vergangene Zeiten. Heute steht eher die Mate-Brause auf dem ergonomischen Schreibtisch, und selbst das mutet bereits nostalgisch an. 

Mobiles Arbeiten, Homeoffice, Co-Working, virtuelle Vernetzung lauten Zauberwörter unserer Zeit. Und mit diesen Fortschritten kehren ausgerechnet die Schließfächer in die Büros zurück. Sind plötzlich eine hippe Ergänzung für moderne Arbeitswelten. Sind ein Trumpf für so wenig Raum-, Zeit- und Energieaufwand wie möglich. 

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Das lockt meinen Freigeist auf eine kleine Zeitreise. Drei Episoden zwischen abgewetzten Turnschuhen, Supermarkt-Lieferungen in Hightech-Schließfächer und neuen Community-Gedanken. Waren diese kastenförmigen Ungetüme rein optisch schon Symbole von solipsistischem Rückzügen in Ich-Welten, der Geheimniskrämerei und des Verpieselns ins Verborgene, stehen die Fächer heutzutage für etwas anderes. Die smarten, scharf konturierten Kuben und Quader sollen Wünsche, Waren und Menschen zusammenbringen. Auf dem Supermarktparkplatz. In Co-Working-Spaces. In Büros mit Flex Desks. 

Früher waren Spinde blecherne Artefakte. In modernen Büros kommen heutzutage eher pastellfarben vor.

Teil 1: Old School, Next School, New School

Mitte der 1990er-Jahre arbeitete ich als wilder Student bei der Post. Es war eine höchst disruptive Zeit. Neben dem Wechsel zu superflexiblen, von tackernden Briefsortiermaschinen flankierten Schichten, waberte noch ein Hauch der 1970er-Jahre durch die Umkleideräume. Ein Kollege soff sich am Spind in den kleineren Päuschen einen an. Eine Aufsicht kassierte hier und da ein Heftchen ein und ließ es im Orkus verschwinden. Nie vergessen werde ich, wie türkischstämmige Kollegen wie in Trance zwischen den Spinden gen Mekka beteten. Mann und Frau waren in dieser Pre-Gender-Zeit noch strikt getrennt. 


Diese post-industrielle Ära hatte etwas Heimeliges und Muffiges zugleich. Der Sprung in die heutige Gegenwart wurde von Büchern begleitet, die sich mit der digitalen Transformation beschäftigten. Es war ein Übergang, in dem sich verschiedene Phasen und Verläufe überlappten. Das Buch "Total Digital" von Nicholas Negroponte gehörte zum Lektürerepertoire. Einfach zu lesen, beschrieb der US-amerikanische Autor und Informatik-Professor am berühmten MIT 1997, wie sich die Welt immer mehr zwischen Einsen und Nullen bewegte. Den simplen Parametern und Polen des Digitalen. 


Schließfächer erscheinen dagegen fast komplex. Ein Spind birgt Geheimes, lässt andere neugierig werden und teilhaben. In der Schule standen sie eher für Abkapselung. Geflirtet wurde woanders, im Gang der hundert Spinde jedenfalls nicht. Heute wird weltweit getindert. Das Wort "gespindert" wird den Weg in ein Wörterbuch nicht finden. Auch Kassiber, die kleinen Zettelchen, wurden eher über Schultische gereicht als in Spinden deponiert. Das Schließfach im modernen Office steht dagegen für Vereinigung statt für Ausgrenzung. Es wird sich Tisch und Raum geteilt wie früher das Brot. Und niemand muss Angst haben, seinen Schlüssel zu verbummeln. Per Augenscan wird das Schließfach geöffnet. 

Spinde stehen eher für verstaubte Schulen als für modernes Arbeiten. Wird sich das ändern?

2. Das Chaos lichtet sich

Auch wenn die Neue Welt steriler scheint als die alte, gleichförmiger, weniger individuell, birgt sie viele Vorteile. Wo es früher unliebsame Großraumbüros gab, sind in modernen Firmen die Zahl der Arbeitsplätze in einem Office etwas begrenzter. In sogenannten Homebases kollaborieren maximal zehn bis zwölf Beschäftigte. In der Nähe der Homebase gibt es für die Mitarbeitenden ein persönliches Schließfach. Diese "Clean-Desk-Konzepte" sind abhängig von einem Smart-Locker-System. 

Diese modernen Spinde sind für jede Arbeitsweise konfigurierbar und bieten intelligenten Stauraum. Sie kühlen und bewahren den schnellen Supermarkteinkauf, wichtige Dokumente oder auch mal eine private Aufmerksamkeit.

Der Kaktus und das Familienfoto auf dem Schreibtisch gehören der Vergangenheit an, sie wandern ins Schließfach. Zum Wohle der räumlichen und zeitlichen Flexibilität. Mehrwerte werden so generiert, Mehrkosten vermieden. Das Gemeinschaftsgefühl wird wie in einer guten Nachbarschaft gestärkt, emotionale Bindung durch Nutzung eines gemeinsamen, kompakten Stauraums vergrößert. Neue Interessen werden gebündelt. Über Schließfächer lässt sich schließlich wunderbar diskutieren "Und was lagerst du so?" bis spekulieren: "Der Kempowski hat schon wieder sein Sportzeug im Spind vergessen."

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3. Szenario Zukunft 

Arbeit und Freizeit verschmelzen immer mehr in einer Epoche, in der das Internet und mobile Apps Raum und Zeit gleichzeitig inhalieren und absorbieren. Herauskommt im besten Fall eine Welt voll selbstbestimmter Individuen. Die können in den Schließfächern neben Dingen des täglichen Bedarfs oder für die berufliche Tätigkeit auch Sachen für die eigene Selbstverwirklichung lagern. Das Schließfach im Büro – vielleicht ein Grund, ab und zu das Homeoffice zu verlassen, um ein Stück Privatsphäre zurückzubekommen. Nach einer Pandemie und Zeiten des extremen familiären Zusammenrückens ein nicht zu unterschätzender Benefit.

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