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"Denn es ist nicht egal, von wo wir arbeiten"

Wird das Wohnzimmer zum Arbeitsstandort der Zukunft? Das würde Chancen versprechen – birgt aber auch Risiken.

Unternehmen reduzieren Büroflächen, Angestellte wechseln dauerhaft ins Homeoffice oder in Co-Working-Spaces. Ist es plötzlich völlig egal, von wo wir arbeiten? Ein Essay.

von Hannes Hilbrecht.

1. Wandelnde Geister

Vasily Ignatenko schien zu genesen. Mit seinen Zimmergenossen spielte er im Krankenhaus Karten, er hatte wieder Farbe im Gesicht, er freute sich über den Besuch seiner schwangeren Frau. Ein paar Tage später starb Ignatenko.

Ignatenko war bei seiner Arbeit als Feuerwehrmann in eines der größten menschengemachten Unglücke unserer Zeit geraten. Er zählte zu den ersten Löschkräften beim Reaktorunglück im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl. Gemeinsam mit seinen Kameraden kämpfte er gegen den Brand, kühlte glühende, aus dem Reaktorkern gesprengte Grafitblöcke. Während dieses Einsatzes wurden die Feuerwehrleute – wie viele andere vor Ort – tödlich verstrahlt. So zeigt es die auf Tatsachen und dokumentierten Einzelschicksalen basierende HBO-Serie Chernobyl.

Die ersten Symptome spürten die verstrahlten Feuerwehrleute rasch. Ihre äußeren Hautschichten verbrannten, verschmolzen fast mit der Schutzkleidung. Im Krankenhaus kämpften Ärzte und Krankenschwestern um das Leben der Feuerwehrleute. Zunächst mit Erfolg. Ein paar Tage später zeigten sich die Patienten – mittlerweile in einer besseren Klinik untergebracht – deutlich erholt. Die äußeren Wunden schienen verheilt.

Als "Walking-Ghost-Phase" bezeichnen Mediziner dieses Phänomen. Für ein paar Stunden, manchmal für ein paar Tage, fühlen sich tödlich verstrahlte wieder lebendig. Das liegt daran, dass die lebensgefährliche Strahlung nicht die spezialisierten Zellen zerstört, sondern die Stammzellen. Dadurch setzt die Zellteilung aus. Für jede Zelle, die im menschlichen Körper abstirbt, wird kein Ersatz mehr gebildet. Der Zustand der vermeintlichen Gesundheit verflüchtigt sich schnell.

2. Der Super-GAU

Auch die Corona-Pandemie erscheint uns mehr und mehr wie ein Super-GAU. Für die Gesundheit vieler Menschen, für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, für die Wirtschaft sowieso. Nun also der zweite Lockdown. Es geht zurück ins Homeoffice. Sogar die Bundeskanzlerin Angela Merkel bat Firmen darum, die Heimarbeit wieder verstärkter einzuführen. Was vor einem halben Jahr für turbulente Szenen in Elektronikfachmärkten sorgte (wo sich verzweifelte Menschen um Webcams und Headsets balgten), wirkt heute beinahe choreografiert. Längst sind die meisten Homeoffices analog und digital eingerichtet. Anders als beim ersten Lockdown bleiben Kitas und Schulen noch geöffnet. Es wirkt, als wäre das flächendeckende und andauernde Homeoffice das Normalste auf der Welt. Also alles gut?

Umfragen zeigen: ja. Eine Mehrheit der Arbeitnehmer ist glücklich im Homeoffice. In einer Studie des "Fraunhofer-Instituts für angewandte Informationstechnik" gaben 80 Prozent der Befragten an, dass ihnen die Arbeit von zu Hause gefällt. 56 Prozent der Umfrageteilnehmer behaupten, sie seien daheim produktiver als im herkömmlichen Büro. Auch diejenigen, die weniger glücklich sind, verteufeln das Homeoffice nicht. Sie wünschen sich eher eine Mischform, wollen nur das Beste aus allen Kollaborationszenarien. Die Arbeitgeber sind anscheinend ebenso zufrieden. Sie planen den Abbau von Büroflächen, kalkulieren sogenannte Remote-Arbeitsplätze für die Zukunft stärker ein. Plötzlich scheint es egal zu sein, von wo wir arbeiten.

Nach dem ersten Schock also die Erleichterung. In den meisten Branchen funktioniert das Homeoffice einwandfrei. Die erste Panik ist längst der Zuversicht gewichen. Doch was, wenn wir uns mitten in einer "Walking-Ghost-Phase" befinden, wir noch gar nicht wissen oder absehen können, welche Spätfolgen dieser Paradigmenwechsel unserer Arbeitsgewohnheiten am Ende wirklich haben wird?

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3. Standort Homeoffice – Benefits und Sorgen

Ich arbeite seit drei Jahren die meiste Zeit im Homeoffice, mindestens drei Tage die Woche. Der Wechsel an den heimischen Küchentisch hatte zunächst organisatorische Gründe, mein Wohnort entfremdete sich mit der Zeit vom Standort meines Arbeitgebers. Als ich mich räumlich wieder annäherte, kam Corona.

Ich schätze das Büro. Erst im Homeoffice begriff ich, wie wichtig es ist, seine Kollegen vor sich zu haben, um Intentionen und Stimmungen zu begreifen. Das Homeoffice dagegen ist – ganz im Sinne des Wirtschaftsdenkers Wolf Lotter – eine klösterliche Zelle für konzentriere Stillarbeit. Und es ermöglicht mir, meinen Arbeitsalltag in produktive Phasen zu splitten. Meine acht, neun Stunden Arbeitszeit leiste ich zwischen 8 und 20 Uhr, nicht am Stück, sondern in Schüben. Ohne Homeoffice ginge das nicht. Freunde und Bekannte, die bereits Eltern sind, schwärmen ähnlich: Im Homeoffice, sagen sie, könne man jetzt auch den Arbeitsalltag besser um die Kinder bauen. Zumindest solange sie in die Schule gehen dürfen.

Also alles bestens? Zumindest nicht bei mir. In den vergangenen drei Jahren bemerkte ich neben den vielen Vorzüge der Heimarbeit auch drei Kernprobleme, die von meiner dauerhaften Tätigkeit im Homeoffice entweder verstärkt oder gar ausgelöst wurden. Es geht um die Gesundheit, familiäre Beziehungen und um das Gefühl der Isolation, das diese Arbeitsform verstärken kann.

Wenn die Küche zum Arbeitsplatz wird, kann das mühsam gewachsene Beziehungen beeinflussen.

4. Gesundheit: Plötzlich ein alter Mann

Ich bin junge 27, und doch schon ein alter Mann. Zumindest sagt das mein Neurologe. Vor ein paar Monaten erlitt ich einen doppelten Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule, obwohl ich zu Studentenzeiten noch überdurchschnittlich sportlich war. Dann kamen die Bürojobs mit (zu) langen Sitzzeiten. Diese gelten als Risikofaktor für Rückenleiden. Wer schlecht und zu häufig sitzt, entwickelt eine Prädisposition für Wirbelsäulenverletzungen. So wie ich.

Bevor ich fast ausschließlich ins Homeoffice wechselte, litt ich jedoch nur selten unter Rückenschmerzen. Ich arbeitete an einem höhenverstellbaren Schreibtisch und saß in einem ergonomischen Stuhl. Im Büro achtete ich zumindest zeitweise auf meine Haltung – oder wurde von Kollegen ermahnt, wenn ich den Körper doch mal sehr ungünstig verrenkte.

An einem richtigen Schreibtisch habe ich in den vergangenen Jahren selten gesessen. Ich kniete auf einem Schemel, lag auf dem Sofa, versank im Garten in einem Sitzsack oder beugte mich über den Küchentisch. Auch mein tägliches Schrittpensum schrumpfte mit der Zeit. Früher war Bewegung notwendig, um ins Büro zu fahren, etwa ein Spaziergang zur Bahnhaltestelle. Der Tag begann mit einer Aktivität. Im Homeoffice lässt es sich faul und später starten. Der Stern titelte bereits 2017 markig: "Homeoffice - das neue Rauchen".

Ob das Homeoffice zu einer generellen Verkümmerung des Aktivitätenpensums führt, müssen Wissenschaftler noch herausfinden. Was aber bereits in manchen Ballungsräumen ersichtlich wurde: Die körperliche Aktivität der Menschen begann im Frühjahr deutlich verzögerter als noch in den Monaten zuvor. Das Wirtschaftsmagazin brandeins fand beispielsweise heraus, dass der durchschnittliche Berliner in Homeoffice- und Lockdown-Zeiten fast eineinhalb Stunden später mit der Morgentoilette startete. 

5. Wenn sich das Ökosystem unserer Beziehungen verändert

Auch meine bis dato stabile Beziehung zu meiner Freundin krampfte unter meiner steigenden Homeoffice-Frequenz. Diese wirbelte das über die Zeit gewachsene Ökosystem unseres Zusammenlebens durcheinander. Sie störte, dass der Küchentisch nun andauernd mit Arbeit kontaminiert war. Mir fehlten das Büro und der direkte Austausch mit Kollegen. Sie wiederum vermisste häufig die eine Stunde am Abend, in der die gemeinsame Wohnung alleine ihr Refugium war. Gewachsene Abläufe, die sich in der Beziehung etabliert hatten, unterlagen plötzlich ungewollten Veränderungen. Das in der Psychologie viel diskutierte Nähe-Distanz-Problem nagte ebenso an unserer Bindung, die Harmonie franste nach und nach aus. Unser soziales Ökosystem "Beziehung" kippte langsam, aber sicher um wie ein See im Sommer. Zunächst glommen die Konflikte, und als diese sich zu Streitereien entzündeten, war eine räumliche wie emotionale Trennung die zwischenzeitliche Folge.

So wie uns erging es auch vielen anderen Paaren. Im chinesischen Wuhan, dem mutmaßlichen Geburtsort der Corona-Pandemie, zerbrachen während des ersten Lockdowns so viele Ehen, dass in Europa über diese Vorgänge berichtet wurde. In Deutschland erwarten Wissenschaftler eine ähnliche Entwicklung. Die Anzahl der Scheidungen könnte sich um das Fünffache erhöhen. Die räumliche Enge gilt neben dem finanziellen Stress als eine der Hauptursachen.

inperspective-Autor Hannes Hilbrecht erlebte im Homeoffice die absolute Freiheit.

6. Psychologischer Ausnahmezustand

Es ist eine verworrene Sache: Auf der einen Seite ist das Homeoffice ein nachweislicher Stresslöser, alleine schon, weil es sich für Büroarbeiter ohne Arbeitswege entspannter durch den Alltag mäandern lässt. Das Pendeln wird vermieden oder eingeschränkt – ein Segen aus Sicht der Arbeitsmediziner.

Andererseits – auch das legen Studien nahe – kann das Homeoffice auf anderen Ebenen für zusätzlichen Stress sorgen. Zum Beispiel durch die Vereinbarkeitsprobleme von Beruf, Familie und Freizeit. Wer regelmäßig zu Hause arbeitet, kennt diverse Szenarien: Es ist verlockend, während der Arbeitszeit eine Waschmaschine anzustellen und die nassen Kleider in der Mittagspause aufzuhängen. Die Zeit, die dieser kleine Aufwand kostet, lässt sich ja am Abend wieder reinholen.

Viele Heimarbeiter klagen darüber, dass sie zwar konzentriert arbeiten müssen und geistig im Dienst sind – die räumliche Präsenz aber eine allgegenwärtige Verfügbarkeit für die Familie suggeriert. Wer in einem beengten Wohnraum lebt, was besonders einkommensschwache oder junge Familien betrifft, erlebt ein Homeoffice, in dem negative Standortfaktoren wirken.

Auch das bereits angeklungene "Zeitwiederreinholen" gerät an manchen Tagen zur Sisyphusarbeit. Es entsteht Stress, der sich aus dem Verantwortungsgefühl gegenüber dem Arbeitgeber und den Familienpflichten speist. "Wenn die Arbeitnehmer länger zu Hause bleiben müssen, sehe ich eine starke Gefahr für die psychische Gesundheit", erklärte die Psychologin Ruth Stock-Homburg im Frühjahr.

Ein ebenso gravierendes Problem ist die zunehmende Einsamkeit von Büroarbeitern. Die räumliche und soziale Isolation, prognostizieren verschiedene Experten, erhöhe die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Phase signifikant. Betroffene, die bereits vor der Corona-Pandemie wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung waren, leiden zusätzlich unter der Erosion von Alltagsstrukturen, die eigentlich mentalen Halt geben sollen. Der Gang ins Büro – für unzählige Mitarbeiter gehört das zur Psychohygiene.

Die Wirtschaftspsychologin Magdalena Bathen-Gabriel schreibt zudem über weitere negative Folgen der neuen Einsamkeit während der Arbeitszeit:  In einem Gastbeitrag formuliert sie deutlich: "Sozial Isolierte haben ein doppelt so hohes Risiko in den folgenden drei Jahren an einem Myokardinfarkt zu sterben als sozial Integrierte. Zudem führt soziale Isolation zu Bluthochdruck, schlechterem Schlafverhalten und einem schwächeren Immunsystem. Und dabei geht es nicht nur um echte soziale Isolation, sondern auch um die empfundene Isolation."

Einsam bin ich im Homeoffice nicht geworden – was ich aber verstehen musste: Das Vermeiden von Isolationsgefühlen verlangt auf allen Seiten soziale Skills, Ressourcen und Kommunikationskapazitäten. Denn Probleme schwellen ohne Sichtkontakt schneller an, Missverständnisse häufen sich, während das Aufarbeiten via Video-Chat oder Telefon länger dauert als in einem persönlichen Zwiegespräch. Kommunikation geschieht nicht mehr von selbst, wir müssen sie planen. Sonst laufen wandelnde Geister blindlings aneinander vorbei.

Eltern können den Arbeitsalltag besser um die Kinder bauen – solange sie zu Schule gehen dürfen.

7. Gewinner und Zurückgelassene

Tschernobyl war eine Katastrophe, die nur Verlierer kannte. Der Wandel unserer Arbeitwelten hin zu flexiblen, standortunabhängigen Arbeitsuniversen spaltet die im Homeoffice tätige Bevölkerung dagegen in Gewinner und Zurückgelassene.

Die Standortunabhängigkeit, die uns die Digitalisierung verspricht, bietet viele Möglichkeiten. Jobs und die damit verbundenen ökonomischen Chancen, die vorher für Talente aus entlegenen Regionen schwer zu greifen waren, sind zusehends auch remote verfügbar. Vielleicht werden dank der Homeoffice-Möglichkeiten wieder mehr Familien gegründet, vielleicht kann die Heimarbeit dazu beitragen, dass Arbeitswelten sozial gerechter und durchlässiger werden.

Doch gleichzeitig kann die Homeoffice-Euphorie für manche eine Walking-Ghost-Phase sein, in der sich Probleme für die Zukunft aufstauen – die sie momentan aber noch gar nicht als eben solche identifizieren können. Seien es die gesundheitlichen Spätfolgen schlecht präparierter Arbeitsplätze oder Konflikte, die bereits innerhalb unserer privater Beziehungsgeflechte schwelen. Das Homeoffice verändert die Koordinaten unseres Zusammenlebens in allen Bereichen. Und wo Wandel ist, lauern nicht nur Chancen.

Arbeitsminister Hubertus Heil forderte erst im Oktober ein Recht auf Homeoffice für jeden Büroarbeiter. Das sorgte für Gesprächsstoff, war ein wichtiger Impuls. "Richtiger" wäre womöglich eine andere Forderung gewesen: Dass jeder Mitarbeiter standortunabhängig den Arbeitsplatz bekommt, den er für seine Arbeit und Persönlichkeit braucht, der genauso ergonomische Grundbedürfnisse erfüllt und die Individualität des Mitarbeiters wertschätzt. Egal, ob im Homeoffice, im Büro oder im Co-Working-Space. Gute Arbeit verlangt die passenden Arbeitsorte, an denen sich Talent und Kreativität entfalten können. Das sollte kein Unternehmen wegrationalisieren. Denn es ist sicher nicht egal, von wo wir arbeiten.

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